„We have a problem!“ höre ich den Schaffner rufen, der auf seiner Info-Tour durch den Wagon gerade bei den vor uns sitzenden englischen Damen angekommen ist. Seit zehn Minuten steht unser Zug nun schon im Bahnhof des ungarischen Städtchens Kiskörös und wir hatten uns bereits gewundert, weshalb der Stopp hier so ungewöhnlich lange ausfällt. Leider spricht der Schaffner nur sehr wenig Englisch; daher wissen zunächst bloß die ungarischen Fahrgäste, weshalb sich unser Halt unplanmäßig verlängert. Den beiden Engländerinnen ist’s egal und mit britischer Gelassenheit packen sie ihre Thermoskanne aus: It’s tea time!
Nachdem mehrere Fahrgäste bereits anfangen, den Zug samt Gepäck zu verlassen, wollen wir doch wissen was los ist. Eine nette Ungarin klärt uns auf, dass es mit dem vor uns fahrenden Zug einen Personenschaden gegeben hat, der gerade von der Polizei untersucht wird. Die Weiterfahrt wird sich daher mit Sicherheit um eine Stunde verschieben… Oder vielleicht auch um zwei.
„Na super, das hat uns gerade noch gefehlt!“, denke ich mir. Seit mehr als zwei Stunden sitzen wir nun schon im Zug und haben bis Kiskörös noch keine 90 Kilometer hinter uns gebracht. Und dabei haben wir in Budapest extra den frühen Zug genommen, um in Belgrad noch einen Nachmittags-Bummel in der Stadt unternehmen zu können! Noch nicht ausreichend an eine langsamere Reisegeschwindigkeit gewöhnt, überschlage ich im Kopf, wie weit ein ICE in Deutschland in zwei Stunden in etwa gekommen wäre…
Leicht genervt verlasse ich den Zug, um mich draußen umzusehen. Nach dem stickigen Zugabteil tut es richtig gut, die kühle und frische Luft einzuatmen. Auf meiner Haut spüre ich die wärmenden Sonnenstrahlen, die trotz der Jahreszeit hier bereits Kraft haben. Eigentlich gar nicht so schlecht. Viele der restlichen Passagiere sind ebenfalls ausgestiegen und haben sich eine Zigarette angesteckt oder stehen in kleinen Gruppen beisammen, um sich zu unterhalten. Sie sehen weder genervt noch verärgert aus. Als ob das hier gar nichts Besonderes wäre. „Vielleicht ist es das ja auch gar nicht?“, frage ich mich und plötzlich wird mir bewusst, dass ich ja nicht in den Zug gestiegen bin, um möglichst schnell zur Arbeit oder wieder nach Hause zu kommen. Nein, eigentlich habe ich sogar den ganzen Tag, oder falls nötig ein ganzes Jahr lang Zeit, um bis nach Belgrad zu kommen!
Ich beschließe, die Sache anders anzugehen und begebe mich mit der Kamera bewaffnet auf Entdeckungstour. Als Erstes schaue ich mir die Lok genauer an. Wann habe ich das wohl zum letzten Mal gemacht? Habe ich mir überhaupt schon einmal eine Lok genauer angesehen? Wann hatte ich das letzte Mal ZEIT dafür? Als ich noch darüber nachdenke, fliegt direkt vor meiner Nase ein Schmetterling vorbei und setzt sich aufs Gleisbett. Meine Chance für ein tolles Foto und die Erkenntnis, dass auch Verzögerungen ihre schönen Seiten haben können… 🙂
90 Minuten und ein improvisiertes Picknick auf dem Bahnsteig später, pfeift der Schaffner zur Weiterfahrt. Aufgrund alter Holzgleise und einer einspurigen Zugstrecke kommen wir zwar weiterhin nur langsam voran, freuen uns aber trotzdem, als wir nach beinahe zehn Stunden Fahrt (für nur 350 km!) wohlbehalten in den Bahnhof von Belgrad einfahren. Zum ersten Mal auf unserer Reise befinden wir uns nun außerhalb der EU. Gleich nach Ankunft fällt uns auf, dass hier fast alles in kyrillischen Buchstaben geschrieben ist. Zum Glück habe ich an der VHS Augsburg zur Vorbereitung einen Russisch-Kurs besucht. So kann ich zumindest die Wörter lesen, wenn auch nur teilweise verstehen 🙂
Problemlos finden wir am Bahnhof schnell die richtige Straßenbahn und nach dem Umsteigen auch den richtigen Bus, der uns zur unserer Couchsurfing-Unterkunft bringen soll. 20 Minuten später klingeln wir Dank guter Wegbeschreibung und meiner Locus-App bei der serbischen Familie, die uns für die kommenden drei Nächte aufnehmen will. Mutter Anja, Vater Tasa und die Kinder Jana und Marko begrüßen uns sehr herzlich und laden uns direkt zu einem Gläschen Rakija und einem herzhaften serbischen Abendessen mit Maiskuchen, Ajvar und Joghurt ein. Auch Katze Eva stellt sich uns vor, was mich besonders freut. Todmüde von der langen Anreise fallen wir danach ins Bett (bzw. auf die Couch :-)).
Am nächsten Morgen stehen wir extra früh auf, da uns Anja ein sehr besonderes Wochenendfrühstück in Aussicht gestellt hat, dass es sonst eigentlich nur an besonderen Festtagen gibt. In der Erwartung eines reich gedeckten Tisches mit Brot, Saft, frischen Früchten, Müsli oder vielleicht sogar Pfannkuchen kommen wir ins Wohnzimmer, wo Tasa gerade das hier typische mit Käse bzw. Hackfleisch gefüllte Teiggericht Burek auf die Teller verteilt. Dazu gibt es Trinkjoghurt. Wir lassen uns unsere Verwunderung nicht anmerken und mampfen uns tapfer durch diesen doch ziemlich gehaltvollen und für uns bislang unbekannten Einstieg in den Tag…
Nachdem sich das Frühstück etwas gesetzt hat, machen wir uns auf, die Stadt zu erkunden. Sohn Marko nimmt uns ein Stück mit dem Auto mit, da er ohnehin in die Stadt muss. Anschließend steigen wir um in die Tram, die wir laut unseren Gastgebern nicht bezahlen müssen (macht angeblich keiner hier). Wir wundern uns…
Von der Haltestelle aus geht es zu Fuß weiter Richtung Zentrum, vorbei an Kirchen, historischen Gebäuden und jeder Menge Menschen, die wie wir die ersten Frühlingstage genießen möchten. Von Belgrads Burg Kalemegdan aus haben wir einen wunderbaren Rundumblick auf die Stadt und die beiden Flüsse Save und Donau. Zum Mittagessen gönnen wir uns leckere Palačinke in einem netten Café direkt am Donau-Ufer.
Am zweiten Tag ist der Morgen verregnet. Daher lassen wir es gemütlich angehen und schlafen erst einmal aus. Mittags werden wir dann doch munter und besuchen Belgrads spannendes Nikola Tesla Museum mit vielen live vorgeführten Experimenten. Alles „dreht“ sich hier um Strom…
Unser Aufenthalt in Belgrad geht wie im Flug vorbei. Gerne wären wir noch ein paar Tage länger geblieben, um noch mehr von der Stadt und ihren Bewohnern kennenzulernen. Doch obwohl wir für unsere Reise ein ganzes Jahr Zeit haben, sind wir paradoxerweise etwas in Zeitdruck geraten: Unser Iran-Visum schreibt vor, dass wir bis zum 20. April in den Iran einreisen müssen. Um für unsere nächste Station Bulgarien, wo wir bereits Einiges geplant haben, und für die Türkei noch genug Zeit zu haben, müssen wir die ersten Stopps leider etwas kürzer halten. Unser Eindruck, den wir von Belgrad gewonnen haben, ist jedoch durchweg positiv und macht Lust, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal hierher zurückzukehren.
Für den nächsten Morgen ist daher bereits die Weiterfahrt nach Sofia in Bulgarien geplant. Dieses Mal haben wir uns für den Bus entschieden, nachdem wir erfahren haben, dass der Zug bis dorthin 14 Stunden brauchen soll… Mindestens! 🙂
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