„An der Nordküste des Issyk-Kuls müsst ihr nicht stoppen, das lohnt sich überhaupt nicht. Zu viele Urlauber, Partys und keine besondere Natur“, geben uns andere Kirgistanreisende mit auf den Weg. In unserem Reiseführer lesen wir hingegen von dem kleinen Örtchen Tamchy, dem ersten am Nordufer des Issyk-Kuls, des „kirgisischen Meeres“. Dort soll es einen tollen Sandstrand geben und im Gegensatz zu den nachfolgenden Orten nicht so überfüllt sein. Wir beschließen, für dieses Mal die gut gemeinten Ratschläge zu ignorieren und der Nordküste eine Chance zu geben.
Am CBT-Büro („Community Based Tourism“) verlassen wir die stickige und heiße Marschrutka, den Minibus, der uns für umgerechnet 3,20 Euro pro Person die 230 km von Bischkek nach Tamchy gebracht hat. Vom CBT-Büro erhoffen wir uns die Vermittlung in eine nette familiengeführte Unterkunft in Strandnähe, doch als wir ankommen, wirkt das Gebäude verwaist. Wie sich herausstellt, ist die zuständige Dame gerade nicht vor Ort und die drei Helfer, die auf einmal aus dem Nichts auftauchen, wollen uns alle in ihr Zuhause locken, ohne überhaupt als CBT-Unterkunft gelistet, geschweige denn in Strandnähe gelegen zu sein.
Wir beschließen, uns selbst um eine Unterkunft zu kümmern. Sebastian bricht zu Fuß in Richtung Strand auf und kommt einige Zeit später wieder zurück. Diverse Unterkünfte in verschiedenen Preisklassen scheint es zu geben, viele haben noch Zimmer frei. Also schultern wir unser Gepäck und machen uns über die staubige Hauptstraße auf den Weg zum Seeufer Tamchys.
Nachdem wir uns drei Unterkünfte, auch die alle von Familien betrieben, aber nicht über CBT gelistet, angeschaut haben, entscheiden wir uns für die Unterkunft von Samat. Samat ist Kirgise und betreibt auf seinem Privatgelände das Guesthouse, welches neben uns drei russische Damen älteren Semesters, eine kasachische Familie und eine weitere Familie aus Bischkek beherbergt. Die Unterkunft ist basic: Zwei schmale Betten stehen in einem kleinen Raum, in den außer einem Regal nichts Weiteres hineinpasst. Die Toiletten befinden sich im Innenhof, genauso wie die einzige Dusche. Klopapier und Handtücher sind im Preis nicht inbegriffen, ebenso wenig wie ein Frühstück. Doch was uns überzeugt, ist das „Meer“, dass zwanzig Meter vor unserer Unterkunft liegt und uns verheißungsvoll anfunkelt.
Der Issyk-Kul ist ein riesiger See – der größte See Kirgistans und nach dem bolivianischen Titicaca-See der zweitgrößte Gebirgssee weltweit, lese ich nachmittags bei Wikipedia. Und es scheint die Sommerdestination der Kirgisen schlechthin zu sein. Unsere kirgisische Freundin Malika gab uns noch in Augsburg eindringlich mit auf den Weg, unbedingt einen Abstecher zum Issyk-Kul zu machen. Und auch alle vor Ort kennengelernten Menschen kommentierten unser Vorhaben, an den See zu fahren, stets mit einem wohlwollenden Kopfnicken. Ein Besuch Kirgistans in den Sommermonaten ohne Abstecher zum Issyk-Kul? Nur schwer vorstellbar…
Die Tage in Tamchy beginnen für mich mit einem Sprung in den See noch früh am Morgen und einem anschließenden leckeren selbstgemachten Frühstück mit frischem Obst, gekochten Eiern, Brot und Honig. Unsere russischsprachigen Miturlauber schauen uns interessiert zu – ihr Frühstück ist um einiges gehaltvoller. Den Rest des Tages verbringen wir am Strand oder im Garten unserer Unterkunft. Da alles eher beengt ist, kommen wir schnell mit den anderen Gästen ins Gespräch und Dank unserer wachsenden Russischkenntnisse können wir uns immerhin über die gängigsten Fragen gut austauschen.
„Geht ihr denn gar nicht in die Sonne?“, fragt uns die kasachische Familienmutter eines Morgens etwas spitz. „Doch, wieso?“, geben wir verwundert zurück. „Eure Haut ist so weiß! Schaut mal mich an – ich gehe in die Sonne“, sie zeigt stolz auf ihren stämmigen Oberarm. „Ich sehe aus wie ein Gorilla“, lacht sie laut und lässt uns stehen. Gorilla… Ein treffender Spitzname für die etwas ruppige Frau, die ihn ab diesem Moment auch nicht mehr los bekommt.
Tamchy ist neben seinem Strand für uns auch ein wunderbarer Ort für Sozialstudien. Kirgisen, Kasachen und Russen schätzen den Ort als Sommerurlaubsziel und wir freuen uns, dass hier eher Familien und ältere Leute als das junge Partyvolk anzutreffen sind. In Tamchy beobachten wir zum ersten Mal, dass bereits zum Mittagessen Vodkaflaschen auf den Tischen stehen, mitgebracht von „ganz normalen Leuten“. In Tamchy werden wir zudem regelmäßig von netten Nebensitzern im Restaurant überrascht, die uns mit einem „Es war einfach zu viel für uns!“ Berge von frisch aufgeschnittener Wassermelone, Kannen voller „Kompot“, selbstgemachtem Fruchtsaft, oder anderen leckeren Überresten überraschen, die sie uns auf unseren Tisch stellen. Uns gefällt das, verhindert es ja auch das Wegschmeißen, und wir übernehmen bald diese Geste und beschenken auch unsererseits Nebensitzer mit den noch guten Überresten.
Doch unsere Tage in Tamchy sind gezählt, denn tatsächlich haben wir einen Termin! Ein Ereignis, das überaus selten ist, seitdem wir unterwegs sind. In Bischkek spazierten wir zufällig am Büro eines deutschen Vereins vorbei, der auf Erwachsenenbildung weltweit spezialisiert ist. Da ich diesen Verein noch aus meinem Studium kenne, klopften wir an und im spontanen Gespräch mit der Geschäftsführerin bot sie mir an, bei einem Trainingskurs, der in einer Woche genau am Issyk-Kul stattfinden sollte, zu hospitieren. Diese Gelegenheit will ich mir nicht entgehen lassen und so packen wir etwas schweren Herzens unser Gepäck zusammen und sagen Samat und dem gemütlichen Tamchy mit seinem tollen Strand „Auf Wiedersehen“.
Unser nächstes Ziel ist Kara-Oi, der Vorort des als Partyhochburg verschrienen Tscholpon-Atas. Da wir im Internet nur Unterkünfte weit über unserem Budget finden, versuchen wir unser Glück und steuern direkt das Strand-Resort an, in dem das Training stattfinden soll. Doch leider ist aktuell Hauptsaison am Issyk-Kul und unser Versuch, als Reiseblogger einen saftigen Discount rauszuhandeln, scheitert ? Alle Versuche helfen nichts – die günstigen Unterkünfte sind ausgebucht und auch die eher wie Bruchbuden wirkenden Unterkünfte auf der anderen Straßenseite haben horrende Preisvorstellungen. Enttäuscht kommen wir nach einem längeren erfolglosen Spaziergang ins Resort zurück. Da fällt der Rezeptionistin zum Glück doch noch ihr kleines Hostel direkt am Strand ein…
Für eine Nacht ist tatsächlich noch ein Zimmer frei und wir können unser Glück kaum fassen, im wahrsten Sinne direkt auf dem Strand ein wunderschönes Zimmer zu einem normalen Preis gefunden zu haben! Auch wenn es bedeutet, dass wir von lauter All-inclusive-Urlaubern umgeben sind. Doch das Wetter ist heute nicht berauschend und so haben wir den Strand fast für uns alleine.
Eine zweite Enttäuschung wartet am Abend auf mich – der aus Deutschland angereiste Trainer wurde erst während seiner Anreise zum Veranstaltungsort von meinem Auftauchen informiert und das nicht als „sie wird hospitieren“, sondern mit einem „sie kommt auf einen Kaffee vorbei“. Zum Glück sprechen wir uns abends noch und schnell ist klar, dass es mit einer Hospitation nichts wird. Die ganze Mühe um diesen Ort Kara-Oi war umsonst und wir hätten getrost noch länger in unserem netten Tamchy bleiben können…
Am nächsten Morgen packen wir – dieses Mal frohen Mutes – nach einem morgendlichen Sprung in den See unsere sieben Sachen und werden von den All-inclusive-Urlaubern nicht schlecht angeschaut, als wir beladen mit unseren Rucksäcken das Weite suchen.
Nach diesem Erlebnis ist uns nun endlich mal nach etwas „richtig Schönem“. Schon vor einem Weilchen wurden wir auf eine Öko-Lodge in dem kleinen Örtchen Grigorievka aufmerksam und diese steuern wir nun an. Und hier finden wir genau das, was wir suchen!
In einem riesigen Garten stehen einige Jurten verteilt, es gibt ein hohes Baumhaus und einen wunderschönen Platz für unser Zelt. In dem Vorzeigeprojekt der Niederländerin Jacobine, die lange in Kirgistan zum Thema „nachhaltige Entwicklung“ arbeitete, wurde an alles gedacht. Die Open-Air-Küche sowie die sanitären Anlagen sind aus Holz gebaut, alles ist tiptop sauber. Das Duschwasser ist Regenwasser und wird anschließend für die Toilettenspülung verwendet, Strom kommt von Solaranlagen, Gemüse wird in einem Gewächshaus aus alten PET-Flaschen angebaut. Auf dem Gelände arbeiten viele Dorfbewohner, die entweder für die Gäste kochen, als Manager das Gelände in Schuss halten oder gegen Geld das viele Obst, allen voran Tonnen von Himbeeren, pflücken. „Ich wollte einfach mal praktisch umsetzen, was wir auf theoretischer Ebene immer in unseren Projekten besprochen haben“, beantwortet Jacobine meine Frage nach dem „Warum“. Leben kann sie von ihrer Öko-Lodge nicht, aber es scheint ihr eine Herzensangelegenheit zu sein.
„Runter zum See ist es ganz einfach mit dem Fahrrad. 7 km sind es, immer bergab. Der tolle Strand ist unten an der Straße nach links, ganz einfach zu finden“, so informiert uns Maria, eine Freundin von Jacobine, die in der Lodge fleißig mit anpackt. Es ist Zeit für uns, diese Idylle zumindest kurzzeitig zu verlassen und uns endlich mal wieder zu bewegen. „Das hört sich ja gut zu schaffen an“, denken wir uns und schnappen uns die Mountainbikes, die wir ausleihen dürfen. Auf schönen kleinen Wegen fahren wir einem umwerfenden Panorama entgegen. Die hohen, teils schneebedeckten Berge vom Südufer des Issyk-Kuls scheinen über dem See zu schweben – ein toller Gegensatz zum tiefblauen Wasser. Der Weg bergab ist wie erwartet kurzweilig, bald schon sind wir an der Abzweigung und biegen nach links ab.
„Wo geht es denn nun endlich zu diesem Strand?“, frage ich Sebastian nach weiteren zwei Kilometern entnervt. Bislang fuhren wir die ganze Zeit an einer dichten, stacheligen Hecke vorbei. „Hier auf der Karte ist etwas eingezeichnet, es kann nicht mehr weit sein.“ Nach weiteren Kilometern auf holprigen, steinigen Wegen, biegt endlich ein kleiner, unscheinbarer Pfad Richtung See ab. Nach langem Suchen haben wir ihn wohl endlich gefunden, den Sandstrand am Issyk-Kul!
Doch was ist das? Vor uns taucht auf einmal eine riesige, gut 30 Meter lange und 20 Meter breite Pfütze auf, die wir weder rechts noch links umfahren können. „Steigt ab und schiebt“, bedeutet uns ein an seinem Auto lehnender Mann lachend. Er selbst will wohl nicht durchfahren und genauso wenig durchwaten. Mutig starte ich einen Versuch – wozu haben wir Mountainbikes? – durch die trübe Pfütze zu fahren. Doch prompt stoße ich auf einen großen Stein, verliere fast mein Gleichgewicht und zusätzlich meinen Flipflop und kann mich gerade noch so halten, um nicht in das Dreckwasser zu stürzen. Na danke! Schließlich nehme ich doch den Rat des Mannes an und schiebe mein Rad, durch die Pfütze watend, in Richtung Strand.
Hier angekommen ist klar, dass sich die Mühen gelohnt haben. Mit gerade einmal zehn anderen Menschen teilen wir uns einen riesigen Sandstrand, türkisblaues und absolut klares Traumwasser! Hier bleiben wir!
Doch leider beginnt die Sonne früher als von uns gewünscht zu sinken. Mit dem Wissen, dass auch der Heimweg dauern wird, machen wir uns schließlich doch wieder auf den Weg und spüren schon jetzt unsere Sitzbeinhöcker, die schmerzhaft bei jeder Bodenunebenheit auf den steinharten Mountainbike-Sattel prallen. Wer am Ende die sagenhafte Idee hatte, eine Abkürzung auszuprobieren, wissen wir heute nicht mehr… Doch der Rückweg dauert noch länger als der Hinweg und ohne Licht bahnen wir uns über die steinige und holprige Piste mit schmerzenden Hintern einen Weg zurück zu unserer Lodge. Wie ist es doch schön, endlich wieder zu Hause zu sein! Für den kommenden Tag lassen wir die Räder getrost in der Ecke stehen.
Tatsächlich wagen wir zwei Tage später noch einmal einen Radausflug an den Issyk-Kul – unsere Sitzbeinhöcker spüren wir immer noch deutlich -, dieses Mal aber bleiben wir strikt auf der geteerten Straße. Der Strand ist, um ehrlich zu sein, bei weitem nicht so schön wie der erste, doch wir kommen wie geplant wieder zu Hause an, ohne uns in Umwegen komplett zu verfahren.
Aus unseren anfangs geplanten zwei bis drei Tagen in Grigorievka wird auf einmal eine ganze Woche und einzig das Wissen, dass unsere visumsfreien 60 Tage in Kirgistan bald aufgebraucht sind und wir noch einiges vorhaben, lässt uns an den Aufbruch denken…
Ob sich die Nordküste unserer Meinung nach nun für einen Besuch lohnt? Auf jeden Fall! Wir trafen bis in Grigorievka keine anderen europäischen Ausländer und hatten so die Gelegenheit, vor allem in Tamchy sehr nett mit den lokalen Touristen und denen der Nachbarländer Kirgistans in Kontakt zu kommen. Die Strände des Nordens haben uns überzeugt und auch hier gibt es menschenleere Plätze – sie liegen nur nicht genau neben der Straße. Alles in allem zeigt uns dieses Erlebnis einmal mehr, dass es sich nicht immer lohnt, auf die Tipps Anderer zu hören. Nicht, dass sie schlecht sind, aber es hat eben doch jeder seine eigene Wahrnehmung und seine persönlichen Vorstellungen.
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Hallo,
ich bin wieder zurück und am Sewansee hatten wir ähnliches Badeglück vor 3 Wochen. Bei der Exkursion einer gr. Gruppe diesen Sommer nach Kirgisien hatten etliche Darmprobleme, wovon Ihr nichts erwähnt. Wenn Ihr wieder in Augsburg seid, würde ich Euch gerne kennenlernen. vielleicht macht Ihr auch gr. Vortrag, wie jetzt die Saison mit einem Südafrikavortrag im Barbarasaal, organisiert durch „Erdanziehung“ beginnt. Es grüßt hjerzlich Hanno.
Hallo Hanno,
schön, dass du auch solch tolles Badewetter hattest wie wir! 🙂 Da sind wir ja froh, dass wir nicht Teil eurer Exkursion waren, denn uns ging es verdauungstechnisch zum Glück gut am Issyk-Kul! 😉 Ja, wer weiß – genug Fotos für einen solchen Vortrag hätten wir auf jeden Fall beisammen! Schaun mer mal… 🙂
Viele Grüße nach Augsburg
Leo & Sebastian