Ich spüre, wie mir langsam ein Schweißtropfen den Rücken hinabrinnt. Der große Rucksack lastet schwer auf meinen Schultern. Wo kann dieses blöde Hotel nur sein? Seit einer Dreiviertelstunde irren wir nun schon durch ein Wohngebiet Ürümqis, mit dem Handy in der Hand. Doch an der Stelle, wo wir das Home Inn Urumuqi Hualin Market im Internet eingezeichnet sahen, können wir es nicht finden. Passanten schauen uns neugierig an und winken uns nett zu. Doch als wir sie um Hilfe fragen wollen, lachen sie nur schüchtern und gehen schnell weiter. Sie scheinen kein Englisch zu sprechen. Ein Wachmann weist uns in die eine Richtung, eine Lehrerin der nahen Schule in die andere. Kann ein Hotel denn so unauffindbar sein? Ich bin entnervt. Es ist heiß, ich schwitze und der Rucksack ist schon wieder so verdammt schwer! Was habe ich eigentlich alles eingepackt? Während wir die Straße entlanglaufen, um an der Hauptstraße nochmal unser Glück zu versuchen, gehe ich in Gedanken mein Gepäck durch und überlegt, was ich nun aber wirklich aussortieren muss.
An der Hauptstraße teilen wir uns auf: Ich passe auf unser Gepäck auf, Sebastian zieht mit seinem Handy und einem Screenshot von der Hotelseite los. Schnell ziehe ich die Aufmerksamkeit der Vorbeilaufenden auf mich. Eine Europäerin inmitten eines großen Berges Gepäck – schon werde ich nach einem Selfie gefragt. Zehn Minuten später ist Sebastian zurück und zu meiner Erleichterung hat er unser Hotel nun endlich gefunden! Eine Passantin hat sich seiner angenommen und ihm den Weg gezeigt. Gemeinsam sammeln wir unsere sieben Sachen zusammen. Vor dem Hotel angekommen verstehe ich, warum wir es selbst nicht haben finden können. Nur chinesischen Schriftzeichen sind außen zu sehen, nicht mal das Wort ‚Hotel‘ können wir lesen.
Erst in der von der Straße aus nicht einsehbaren Lobby bemerken wir die vielen Uhren, die die Zeiten von Peking, London, Buenos Aires und anderen Metropolen anzeigen und müssen schmunzeln. „Auch wenn ihr nichts lesen könnt, die Uhren haben uns immer ein Hotel angezeigt“, gab uns ein Pärchen, das wir in Almaty trafen, mit auf den Weg. Scheinbar hatten sie recht. Schade nur, dass wir diese Uhren von der Straße aus nicht sehen konnten, sonst hätten wir uns das Umherirren durch das benachbarte Wohngebiet vielleicht erspart.
Erst jetzt geht uns auf, dass alle Menschen, die wir vorhin um Hilfe gebeten haben, uns bereits in die richtige Richtung geschickt hatten. Doch weil wir keine gemeinsame Sprache haben und die Beschriftung des Hotels nicht lesen können, sind wir sogar einmal direkt daran vorbeigelaufen, bevor wir überhaupt durch das Nachbarviertel zu irren begannen. Zu sehr haben wir auf den im Internet vermerkten vermeintlichen Standort vertraut, der in Wahrheit aber falsch war…
Ürümqi bleibt auch in den kommenden Tagen ein riesiges Labyrinth für uns. Allerdings eines, durch das wir gerne streifen. Wir entdecken die hübsche Pagode im Red Hill Park. Wir genießen die Aussicht auf die atemberaubende Skyline Ürümqis. Wir schauen älteren Menschen im Park zu, wie sie Brettspiele spielen. Und beobachten andere, die an diversen Klettergerüsten verrückte Dehnübungen vollführen. Wir verirren uns auf der Suche nach dem bekannten night market, den außer uns niemand zu kennen scheint. Wir finden ihn nicht. Wir wundern uns über ein bizarres Kinderlied, das in jedem Laden, jeder Apotheke, jedem Kiosk läuft. Wir kommen mit Menschen ins Gespräch, als wir sie fragen, was es mit dem Lied auf sich hat. Jeder, den wir fragen, erzählt uns etwas anderes. Spannend ist das allemal.
Die ersten Tage in China sind für uns eine neue Herausforderung. Zum ersten Mal auf dieser Reise sind wir in einem Land, in dem wir uns wirklich gar nicht mit Worten verständigen können. Bestellungen in Restaurants werden lustig, denn wir schlendern durch die Reihen, schauen den Menschen auf die Teller und entscheiden so, was wir selber essen möchten. Oder wir dürfen die Küche besuchen und in alle Töpfe hineingucken. Wir müssen wir uns erst an das laute Schmatzen und unüberhörbare „Gerotze“ gewöhnen, dass wir überall vernehmen. Treffen wir jemanden, der Englisch spricht, nutzen wir die Gelegenheit und lassen uns von ihm einen Zettel mit unseren Anliegen auf Chinesisch schreiben, den wir später vorzeigen können. So schaffen wir es auch recht zügig, uns das Zugticket für die Weiterreise zu kaufen.
„Do you know where we can buy a Chinese sim-card?“, fragen wir eines Abends einen Studenten, von dem wir uns erhoffen, dass er ein klein wenig Englisch spricht. Doch er versteht unsere Frage falsch. „Restaurant?“, fragt er uns zurück. Wir sind ein wenig verwirrt. Nein, Essen wollten wir eigentlich gerade nicht. Eine Sim-Karte, das würde uns momentan mehr helfen. Doch die Kommunikation funktioniert nicht. Wir bedanken uns nett und laufen weiter, vielleicht kann uns jemand anderes helfen. Doch der Student scheint uns im Blick zu behalten, denn kurze Zeit später steht er wieder vor uns. „Restaurant?“, fragt er uns erneut. „Hmm, ok, Restaurant… Do you know a nice one?“ Also, dann verschieben wir das mit der Sim-Karte eben.
Eine gebrochene Unterhaltung beginnt und unser Wunsch, Reis zu essen, scheint für Schwierigkeiten zu sorgen. Kein Reis in China? Das kommt mir verrückt vor. Doch tatsächlich ist in der Gegend, in der wir gerade laufen, vor allem Fast Food im Angebot. Burger, Pizza oder Sandwiches zu essen wäre kein Problem. Doch nach einigem Suchen findet unser neuer Freund doch noch ein winziges Restaurant in einer dunklen Seitengasse, in dem es tatsächlich Reis zu essen gibt. Wir bestellen unser Lieblingsgericht Brokkoli mit sehr viel Knoblauch, dazu ledrige Mu-Err-Pilze und sehr scharfes Fleisch. Das Essen in China ist einfach fantastisch!
Auch wenn wir uns nicht wirklich gut unterhalten können, so ist unser neuer Freund ein netter Essenspartner. Die Atmosphäre am Tisch ist angenehm und wir unterhalten uns vor allem mit Hilfe unserer schon geschossenen Fotos. Die sind zum Glück auch ohne Sprache verständlich. Am Ende übernimmt der hilfsbereite Student sogar die Bezahlung der Rechnung, Widerstand zwecklos. Er organisiert uns noch ein Taxi für die Fahrt zurück ins Hotel und wir verabschieden uns herzlich. Wahrscheinlich werden wir uns nie wiedersehen, doch in Erinnerung wird uns diese nette Begegnung auf jeden Fall bleiben!
Obwohl wir an manchen Tagen einfach nur durch die Straßen wandern, Parks besuchen, Pagoden anschauen und das Leben auf den Straßen beobachten, vergeht die Zeit wie im Flug. Seit wir in China sind, sind wir sehr beschäftigt, einfach da zu sein und zuzuschauen, wie das öffentliche Leben vor sich hin plätschert. Abends fallen wir todmüde ins Bett. Wieder mal waren es viele neue Eindrücke, Gerüche, Farben, Gesichter und Geschmäcker, die auf uns eingeprasselt sind. Es ist anstrengend, hier zu sein. Aber es macht auch sehr viel Spaß. Unsere Neugierde auf Xinjiang lässt sich durch die eindrucksvollen Tage nicht mindern, im Gegenteil. Und so reisen wir nach ein paar Tagen in Ürümqi weiter, auf zu neuen Erlebnissen in diesem verrückten Land.
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Mit einem großen Lächeln habe ich Eure Berichte über Eure Zeit in China verfolgt. Eure Erfahrungen sind so ähnlich wie meine, damals vor mehr als 26 Jahren. Aber auch anders. Xinjiang wird ja häufig gar nicht als „richtiges“ China gesehen. Es ist China und dann auch wieder nicht. Es bietet ganz spezielle China-Erlebnisse.
LG
Ulrike
Liebe Ulrike,
vor 26 Jahren war China bestimmt nochmal ganz anders als heute – schade, dass wir dieses China nie kennenlernen werden können. Xinjiang ist auch für uns sehr anders als beispielsweise die Ostküste. Aus Kirgisistan und Kasachstan kommend, waren die Ähnlichkeiten mit diesen Ländern manchmal sehr verblüffend für uns, aber Uiguren leben ja auf beiden Seiten der Grenze, von daher sind die Ähnlichkeiten logisch.
Welche Erfahrungen hast du in Xinjiang gemacht, die sind von unseren unterscheiden?
Liebe Grüße aus Mexiko-Stadt
Leo