Mit über 200 km/h rasen wir dahin. Wir sitzen im Schnellzug von Ürümqi nach Turpan und die Bezeichnung des Zuges macht diesem alle Ehre. Benötigen wir für die Fahrt von einer zur nächsten Stadt in China häufig bis zu 10 Stunden oder gar mehr, so dauert es dieses Mal nur 60 Minuten. Entspannt sitze ich im bequemen Sessel des brandneuen Wagons und blicke aus dem Fenster. An mir vorbei rauscht eine karge, steinige Landschaft und mittendrin: hunderte von Windkraftanlagen. Hört man in den Medien oft von stinkenden Kohlekraftwerken, die in Teilen Chinas für Smog und schlechte Luft sorgen, so ist das hier anders. Die Luft wirkt klar und die Sonne scheint mit voller Kraft vom Himmel herab. Wir hoffen, dass dies nicht nur ein Vorzeigeprojekt an einer von Touristen vielfrequentierten Strecke ist, sondern dass auch in anderen Landesteilen verstärkt auf nachhaltige Energiegewinnung gesetzt wird.
Nach dem eher unpersönlichen Hotel in Urumqi haben wir uns in Turpan für das etwas abseits des Zentrums gelegenes Dap Youth Hostel entschieden. Genau wie bei unserem letzten Stopp ist dessen Position bei Google Maps leider falsch eingetragen, sodass wir uns erneut durchfragen müssen, bis wir unsere Unterkunft finden. Immerhin hat es sich gelohnt. Das Hostel ist geräumig und sauber, unser Zimmer leise und schön und es gibt einen traumhaften Sitzbereich im Innenhof. Und das Beste: Er ist von schattenspendende Weinreben überwachsen, von denen sich die Hostelgäste nach Belieben mit Trauben versorgen dürfen. Einfach abpflücken und schmecken lassen. Es ist Traubenzeit in Turpan!
Wir stellen unser Gepäck im Zimmer ab und machen gerade einen kleinen Rundgang durchs Hostel, als uns jemand zuruft: „Hey guys!“. Wir blicken uns um und schauen in das lachende Gesicht von John, den wir vor über einem Monat in Kasachstan kennengelernt hatten. Der Engländer ist mit dem Fahrrad unterwegs und hat die vielen Kilometer von Almaty bis Turpan alleine mit Muskelkraft zurückgelegt. Eine starke Leistung und darüber hinaus ein schöner Zufall, dass wir uns mehrere Wochen später hier wiedersehen. Obwohl wir überrascht sind, ist uns dieses Phänomen inzwischen hinlänglich bekannt: Seit Zentralasien passiert es immer wieder, dass wir Zufallsbekanntschaften zu einem späteren Zeitpunkt an einem völlig anderen Ort unerwartet wiedertreffen. Man sieht sich eben doch immer zweimal – mindestens! 🙂
Zu unserer Freude verfügt das Hostel über eine Waschmaschine, die wir gegen eine kleine Gebühr mitbenutzen dürfen. Da unsere Schmutzwäschetüten bereits randvoll sind, ist es mal wieder höchste Zeit. Denn für mehr als 5 T-Shirts und eine vergleichbare Anzahl an Unterhosen und Socken ist in meinem Rucksack einfach kein Platz.
Als wir Hunger bekommen, beschließen wir in die Stadt zu gehen. Der Weg dorthin führt vorbei an kleinen Geschäften und einer Bäckerei, die ihr frisch gebackenes Brot auf einem Verkaufstisch ausgebreitet hat. Mit Mühe und Not widerstehen wir dem verführerischen Duft und biegen auf die Hauptstraße ab. Der Fußgängerbereich ist großzügig angelegt, doch schnell merken wir, dass hier (fast) niemand zu Fuß unterwegs ist. Immer wieder erschrecken wir uns zu Tode, als die Elektroroller und die ebenfalls elektrisch betriebenen Kleintransporter wie aus dem Nichts hinter uns auftauchen.
Nachdem wir die Straße einmal hinauf und wieder hinunterspaziert sind, entscheiden wir uns für ein kleines Restaurant, in dem bereits einige Leute beim Mittagessen sitzen. Zu unserer Überraschung bringt uns der Kellner eine Speisekarte, die sogar auf Englisch geschrieben ist. Es müssen wohl doch ab und zu ausländische Gäste hier vorbeikommen. Schnell haben wir gewählt: Gebratenes Gemüse, Tofu mit Pilzen und Reis soll es sein. Doch der Kellner verzieht sein Gesicht. Gemüse gibt es gerade nicht, Tofu ist aus und Reis kann angeblich erst ab 18 Uhr bestellt werden. Wir wundern uns und schauen den Kellner fragend an. Was aus der Speisekarte ist denn überhaupt verfügbar?
Obwohl der englischen Sprache nicht mächtig, versteht er uns und zeigt zum Tisch nebenan, an dem drei junge Chinesen schmatzend und schlürfend eine mit Gemüse garnierte Endlosnudel vertilgen. „Laghman!“, sagt er und lacht. Da wir Laghman bereits aus Zentralasien kennen und ohnehin keine andere Wahl haben, stimmen wir zu und bestellen je eine Portion dieses uigurischen Gerichts.
Während wir auf unser Essen warten, hören wir auf einmal laute Schläge aus der Küche. Was da wohl los ist? Neugierig stehe ich auf und gehe hinüber zu dem Raum, aus dem die Geräusche kommen. Der Koch schaut etwas misstrauisch zu mir herüber, doch nachdem ich nett grüße, ringt auch er sich zu einem Lächeln durch. Aber eigentlich ist er beschäftigt. Schon fängt er an, mit beiden Armen eine vor ihm liegende Teigschlange aufzuwickeln. Anschließend hebt er die Arme mitsamt Teig bis über den Kopf und lässt sie mit einem ohrenbetäubenden Knall zurück auf die Arbeitsfläche schnellen. Dies wiederholt er mehrere Male bis er den nun auf das Doppelte gelängten Nudelteig ins kochende Wasser gleiten lässt. Frischer könnte unser Laghman nicht sein! Doch seht selbst:
Nach dem Essen unternehmen wir einen letzten Versuch, uns eine chinesische SIM-Karte zu kaufen. Da die Reisewelle zur ‚Golden Week‘, der Herbstferien in China, bereits eingesetzt hat, ist es notwendig, Unterkünfte im Voraus zu reservieren. Und weil Booking.com & Co. in China nicht funktionieren, kommt nur eine telefonische Reservierung in Frage. Eine eigene SIM-Karte zu haben ist einfach praktisch. Nach vielen erfolglosen Versuchen in Yining und Urumqi haben wir in Turpan mehr Glück. Endlich dürfen wir eine SIM-Karte erstehen, auch wenn wir dafür etwas flunkern müssen und sagen, dass wir für ganze drei Monate in China bleiben werden. Eine kürzere Laufzeit ist nämlich nicht vorgesehen.
Von der Innenstadt aus fahren wir zur Ruinenstadt Jiaohe, der Hauptsehenswürdigkeit Turpans. Die Ruinen der von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannten Stadt erstrecken sich über ein riesiges Gebiet und wir sind beeindruckt von den Überresten der zahlreichen mit Lehmziegeln erbauten Gebäude. Während die in großen Bussen angereisten chinesischen Reisegruppen von einem Guide in Rekordzeit über das Gelände geführt werden, können wir es zum Glück langsamer angehen lassen. Die Ausdehnung der historischen Stätte ist enorm und schon bald haben wir einen Teil der verlassenen Ruinen ganz für uns allein. Obwohl die Sonne bereits tief steht, ist es noch erstaunlich warm und so bewundern wir die teils bizarren Lehmformationen bis kurz vorm Sonnenuntergang.
Am nächsten Tag machen wir uns auf, das Emin-Minarett und die dazugehörige Moschee anzuschauen. Praktischerweise ist das Minarett von unserem Hostel aus fußläufig zu erreichen. Auf dem Weg dorthin bekommen wir ein wenig des normalen Alltags der hier lebenden Menschen mit. Wir spazieren vorbei an Obst- und Gemüseständen, beobachten Handwerker bei Schweißarbeiten in der hauseigenen Werkstatt und finden zufällig eine schöne Moschee der muslimischen Uiguren, die in Turpan die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen.
Und dann sehen wir auch schon das Minarett, das Ziel unseres heutigen Ausflugs. Doch wo in unserer Karte das Eingangstor eingezeichnet ist, stehen wir nun vor einem mit Stacheldraht umwickelten Zaun. Und jetzt? Ein Passant, den wir nach dem Weg zum Eingang fragen, schickt uns in eine Straße, die eher vom Minarett wegführt, als darauf zu. Schnell merken wir, dass das gesamte Gelände ‚aus Sicherheitsgründen‘ eingezäunt wurde und wir nun einen Umweg von mehreren Kilometern zurücklegen müssen, um das neue Eingangstor zu erreichen. Und das bei der Hitze.
Als wir uns gerade auf den Weg gemacht haben, hält ein paar Meter vor uns ein Elektroroller am Straßenrand. Ein älterer Herr greift in einen großen Karton am Roller und zieht eine Rispe Trauben heraus, die er seinem hinter ihm sitzenden Enkel reicht. „Jetzt ein paar Trauben zur Erfrischung, das wär’s!“, denke ich mir. Und siehe da: Entweder kann der Traubenmann Gedanken lesen, oder hat meinen flehenden Blick einfach richtig interpretiert. 🙂 Jedenfalls winkt er uns zu sich herüber und schenkt uns eine ganze Tüte voll köstlicher Trauben. Als wir ihn fragen, ob wir etwas dafür bezahlen sollen, winkt er lachend ab. Bei dem Überangebot an Trauben in Turpan sind die paar Trauben für ihn wahrscheinlich eine Kleinigkeit. Uns sind sie in diesem Moment mehr als willkommen.
Wir setzen unseren Weg fort und entfernen uns mit jedem Schritt weiter vom angepeilten Minarett. Welch unsinnige Verkehrsführung sich die Macher hier ausgedacht haben! Der Ort scheint eher auf Besucher ausgelegt zu sein, die mit Auto oder Bus unterwegs sind. Fußgänger, die womöglich unnötig im Wohnviertel der Uiguren umherstreunern, sind nicht willkommen.
Wenig später erreichen wir die Hauptstraße und merken, dass wir ab hier wohl nochmals eine gute halbe Stunde unterwegs sein werden. Zum Spaß probieren wir es per Anhalter und tatsächlich stoppt bereits das erste Auto für uns. Der Fahrer eines kleinen Lieferwagens freut sich sichtlich, uns mitnehmen zu dürfen und setzt uns direkt vor dem Eingang ab. Danke! 🙂
Obwohl wir uns in der Stadt und dem netten Hostel sehr wohl fühlen, ist unsere Zeit in Turpan begrenzt. Zu viel gibt es in Chinas Provinz Xinjiang noch zu entdecken und zu weit erscheint uns die Strecke von hier bis an die pakistanische Grenze, als dass wir hier länger verweilen könnten. Und so packen wir nach nur drei Nächten schon wieder unsere Rucksäcke und begeben uns zum Bahnhof. Mit im Gepäck haben wir viele schöne Eindrücke einer für chinesische Verhältnisse gemütlichen Stadt, sowie die leckersten Trauben und Rosinen unserer bisherigen Reise. Ob die anstehende Zugfahrt wohl wieder so angenehm und luxuriös wie bei der Anreise im Schnellzug werden wird ? Wir hoffen es…
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