„Nun sind wir also in Pakistan! Ich hätte morgens am Busbahnhof niemals gedacht, dass wir es noch schaffen werden! Doch wieder mal hatten wir Glück und nun sind wir hier!“, so werde ich später in mein Tagebuch schreiben. Doch aktuell sieht es alles andere als einfach aus.
Die Grenze nach Pakistan ist für zehn Tage rund um die Golden Week, der Ferienwoche um den chinesischen Nationalfeiertag, geschlossen. Ganze zehn Tage komplett zu! Wir rechnen hektisch nach, ob unser chinesisches Visum überhaupt noch so lange gültig ist, doch haben Glück. Zwei Tage Puffer bleiben uns noch, wenn die Grenze tatsächlich an besagtem Montag wieder aufmachen wird.
Unser letzter Stopp vor der Grenze wird das kleine Örtchen Tashkurgan sein, das auf dem chinesischen Teil des Karakorum Highways gelegen ist. Der Weg dorthin soll spektakulär sein und tolle Campingmöglichkeiten bieten, doch leider nicht für uns: Seit 2017 hat die chinesische Regierung vieles in Xinjiang verboten, was zuvor noch erlaubt war. Campen in der Wüste. Und auch Campen am Karakol-See. Nur mit einer Ausnahmegenehmigung ist es noch möglich, doch mehrere hundert Euro ist uns dieses Zelterlebnis dann doch nicht wert.
Wie es der Zufall will, fällt uns eines Tages ein Zettel am Schwarzen Brett unseres Hostels in Kaschgar auf. Eine Engländerin sucht Mitreisende, um sich ein Auto nach Tashkurgan zu teilen und an den schönsten Plätzen auf der Strecke stoppen zu können. Das hört sich nach unserem Geschmack an und nach einem kurzen Telefonat müssen wir schmunzeln. Naomi, die Engländerin, kennen wir sogar schon! Wir trafen sie am Busbahnhof Kuchas, als unser Bus durch die Wüste überraschend doch nicht fuhr. Nun ist sie auf einmal auch in Kaschgar und wir werden gemeinsam nach Tashkurgan fahren. Mit dabei sind ihre Freundin Chloe und das israelische Pärchen Yarden und Itai.
Am Mittwoch geht es los. Wie vom Angestellten der Touristeninformation, über die wir das Auto samt Fahrer gebucht haben, gebeten, sind wir bereits um 9.30 Uhr mit all unserem Gepäck am Treffpunkt. Auch Naomi, Chloe, Yarden und Itai haben sich schon eingefunden. Alleine – es fehlt unser Fahrer. Eine Stunde Warten später werden wir langsam ungeduldig. Doch auf unsere Rückfragen hat der Mitarbeiter keine Antworten. Unsere Chancen, alle gewünschten Stopps am Straßenrand einlegen zu können, werden geringer. Der Mitarbeiter merkt, dass wir langsam genervt sind. Er erbarmt sich schließlich, ruft unseren Fahrer an und macht uns einen Vorschlag: Warum wir nicht mit dem Taxi zur Werkstatt fahren würden? Denn da wären Fahrer und Auto gerade. So könnten wir doch geschickt viel Zeit sparen.
Besser als doof zu warten ist es allemal. So sammeln wir unseren Fahrer in der Werkstatt ein und bemerken, dass er leider doch nicht, wie hoch und heilig versprochen, Englisch spricht… Doch als die Fahrt beginnt, sind die Anfangsschwierigkeiten vergessen. Der Weg hinaus aus Kaschgar schlängelt sich von einer Polizeikontrolle durch die nächste, auf sehr guter Straße sind nur 40 km/h erlaubt, diverse Kameras sorgen für die Einhaltung. Regelmäßig müssen wir unsere Pässe vorzeigen, der Kofferraum wird gecheckt. Doch wir kommen voran und lassen die Stadt endlich hinter uns.
Von den 1.270 Metern, auf denen Kaschgar liegt, werden wir uns heute auf die 3.094 Meter Tashkurgans hocharbeiten. Ich selbst freue mich vor allem auf die zwei Seen, die wir passieren werden: Den Karakol-See und den White Sand Dune Lake, benannt nach den weißen Sanddünen, die ihn umgeben.
Doch der erste Stopp geht auf mein Konto: Ich habe meine Baumwoll-Besessenheit noch nicht überwunden und möchte mir gerne zwei, drei Baumwollzweige als Andenken mitnehmen. Als ich am Straßenrand Baumwollfelder entdecke, sind zum Glück all unsere Mitfahrer für einen kurzen Stopp bereit. Viele von ihnen sehen Baumwolle zum ersten Mal und während sie begeistert Fotos schießen, schneide ich mir zwei Zweige ab. Das Thema „Baumwolle“ ist damit wahrscheinlich abgeschlossen, denn in den Höhen des Karakorums werden wir wohl keine mehr finden.
Glücklich und zufrieden setzen wir die Fahrt zum White Sand Dune Lake fort, sind erstaunt über den starken Wind und die bereits deutlich kühleren Temperaturen. Auf dem Weg dorthin schweift mein Blick stetig auf die rechte Seite, in Richtung Westen. Wahnsinn, dass wir vor vier Monaten auf der anderen Seite dieser Berge gefahren sind, als wir auf dem tadschikischen Pamir Highway unterwegs waren. Damals waren wir kilometerlang am chinesischen Grenzzaun entlang gefahren, nun sind wir auf einmal auf der anderen Seite!
„Can you please stop here?”, reißt mich Naomi aus meinen Gedanken. Aufgeregt zeigt sie hinein in einen Canyon, in dem wir viele rote Felsen entdecken. Das Wetter hat sich mittlerweile recht zugezogen, der Himmel ist grau, die Temperaturen liegen bei vielleicht 12 Grad. Aber gegen einen kleinen Spaziergang hat niemand von uns etwas einzuwenden. Zu sechst stapfen wir hinein in den Canyon, der, je weiter wir laufen, immer ausgewaschener und beeindruckender aussieht. Doch es ist kalt und ungemütlich, so drehen wir bald um und kehren zum Auto zurück.
Nach unserem letzten Stopp am Karakol-See geht die Fahrt nach Tashkurgan in die Zielgerade. Itai und Yarden sind vom Karakol-See begeistert und erzählen mit leuchtenden Augen, dass ein Bild dieses Sees, das sie irgendwo gesehen haben, den Ausschlag gab, selbst nach Xinjiang zu reisen. Für sie ist dieser Stopp hier weit mehr als nur auf einen normalen See zu blicken. Für mich ist es aber genau das. Mir kommen Erinnerungen an den tadschikischen Karakol-See hoch, den ich weit beeindruckender und schöner im Gedächtnis behalten habe als das chinesische Pendant.
Abends, als es bereits dunkel ist, erreichen wir Tashkurgan. Wir alle haben dazugelernt und uns aufgrund der Golden Week bereits vorab ein Zimmer im einzigen Hostel des Ortes reserviert. Dort angekommen schockt uns der Hostelangestellte: Er hätte gehört, die Grenze zu Pakistan sei noch den ganzen Oktober geschlossen! Also noch weitere 14 Tage. Er würde aber morgen für uns nochmal nachfragen. Unsere Stimmung ist gedrückt und solidarisch begleiten uns Naomi, Chloe, Yarden und Itai zum pakistanischen Restaurant des Ortes. Wenn wir vielleicht schon nicht hinfahren können, dann essen wir wenigstens jetzt pakistanisch! Es gibt ein leckeres Yakgericht und zwei vegetarische Currys, schmeckt lecker und sehr anders als sowohl die chinesische als auch die uigurische Küche.
Am nächsten Morgen kommt die Entwarnung. Das Grenzschließungsgerücht stellt sich als „fake news“ heraus… Die Grenze soll doch nach den angekündigten zehn Tagen Schließung wieder öffnen. Wir können aufatmen. Naomi, Chloe, Yarden und Itai sind davon ohnehin nicht betroffen, denn sie werden in China bleiben und nicht nach Pakistan reisen. Doch lernen wir im Hostel das Schweizer Paar Julia und Simon, den Waliser Mike und den Polen Miroslav kennen. Sie alle wollen wie wir nach Pakistan und sitzen nun hier fest, teils wussten sie vorab nicht mal von der Grenzschließung. Für Julia und Simon ist die Situation besonders blöd: In ihren Flitterwochen sind sie von Kirgistan nach China gereist und wollen nun weiter auf pakistanische Seite, wo sie von einem Guide in Empfang genommen werden sollen. Doch statt ihre gebuchte Reise antreten zu können, sitzen sie nun im beschaulichen Tashkurgan fest.
„Have you already seen a local wedding?”, werden wir am nächsten Morgen gefragt. “Hmm, no. Why?” “It’s wedding season right now! You have to visit one wedding!” So starten wir in einen aufregenden Tag, an dem wir versuchen, ein Taxi für zehn Personen aufzutreiben (aussichtslos), eine Mitfahrgelegenheit zu organisieren (erfolgreich, die Polizei nimmt uns mit!) und das Hochzeitsgelände zu finden (sehr, sehr schwierig!). Wir wollen schon fast aufgeben, uns in einem unbewohnt wirkenden Wohnviertel nach einer vermeintlichen Hochzeit durchzufragen, da kommt Yarden und Itai eine gute Idee. Der einzigen Frau weit und breit tanzen sie ein paar Takte Wiener Walzer vor, begleitet von einem fragenden Gesicht. Der Hochzeitstanz scheint auch hier nicht unbekannt und mit einem Lächeln deutet die Frau in eine Richtung, in der wir kurz darauf tatsächlich die Hochzeit finden.
Ich hatte eine kleine Feier erwartet und mich etwas unwohl gefühlt beim Gedanken, einfach in das Fest hineinzuplatzen. Um nicht mit leeren Händen dazustehen, hatten wir vorab allerhand Essbares als Geschenk besorgt. Doch unsere Sorge scheint unbegründet. Drei große Reisebusse stehen neben dem kleinen Haus und Horden chinesischer Hobbyfotografen bahnen sich mit teils drei großen Kameras behangen einen Weg durch die Gäste. Schamlos werden alle Anwesenden fotografiert, wir eingeschlossen. Das hatte ich mir anders vorgestellt.
Im Hof tanzen einige Männer, Frauen kochen und waschen weiter hinten schmutziges Geschirr ab. Doch ich bin mir nicht sicher, ob der Tanz tatsächlich zum Fest gehört oder nur für die Fotografen aufgeführt wird. Da öffnet sich die Türe des Hauses und die Menschen bilden ein Spalier. Erst jetzt verstehen wir, dass wir uns im Elternhaus der Braut befinden. Von Kopf bis Fuß geschminkt und geschmückt wird sie von ihrer Familie zu einem Auto begleitet, das sie zu ihrem neuen Zuhause bei ihrem Ehemann bringen wird. Von der Braut kann ich aufgrund der vielen in die Höhe gereckten Kameras kaum etwas erkennen, es geht zu wie auf dem roten Teppich.
Als ich sehe, dass Familienmitglieder zu weinen beginnen, als die Braut ins Auto steigt, frage ich mich erneut, was wir hier eigentlich machen. Doch bevor das Gefühl, hier mächtig zu stören, zu groß wird, nimmt sich Faridun unserer an. Er ist der Cousin der Braut und will nichts davon wissen, dass wir vielleicht nicht hier sein sollten. Im Gegenteil lässt er uns unsere Geschenke der Brautmutter übergeben, die zu unserer mitgebrachten Wassermelone etwas ungläubig verlauten lässt, dass sie so etwas wirklich noch nie geschenkt bekommen hätte. Faridun geleitet uns ins Haus hinein und lässt uns auf dem großen Tuch auf dem Boden Platz nehmen. Bald steht ein großer Teller dampfenden Plovs vor uns, dem recht öligen Reisgericht Zentralasiens. Dazu wird frittiertes Brot gereicht und ein kleines Schlückchen ziemlich hochprozentigen selbstgebrannten Schnapses.
Am Ende ist der Besuch dieser Hochzeit doch ein schönes Erlebnis, was vor allem auf Fariduns Konto geht, der geduldig all unsere Fragen beantwortet. Um die Essecke nicht zu lange zu beanspruchen und auch anderen Gästen die Chance zu Plov und frittiertem Brot zu geben, machen wir uns bald auf den Weg zurück ins Hostel. Abends gehen wir in der größten Gruppe bislang überhaupt essen: unsere Mitfahrer Itai, Yarden, Naomi und Chloe sind dabei sowie die Pakistanreisenden Julia, Simon, Mike und Miro. Und wir natürlich. Das kleine chinesische Restaurant kommt an seine Grenzen, doch nach und nach werden uns Teller leckeren Tofus, unseres heißgeliebten Brokkolis, scharfer Bohnen, scharfen Schweinefleischs und zum Glück nicht ganz so scharfer Mu-Err-Pilze auf den Tisch gestellt. Es ist ein Festessen und alle geben sich Mühe, mit ihren Stäbchen die Leckereien unfallfrei in den Mund zu befördern.
Der nächste Morgen begrüßt uns mit fantastischem Herbstwetter. Es ist kühl, doch der Himmel wolkenlos, strahlend blau und die Sonne scheint. Wir machen einen Spaziergang zu den Grasslands, einer Sumpfgegend in Laufentfernung des Zentrums, und schlendern über erhöhte Holzwege, schmunzeln über die uns angepriesenen „besten Fotospots“, beobachten chinesische Touristen bei ihren vielen Selfies und genießen die Stille und das viele Grün um uns herum.
Naomi, Chloe, Itai und Yarden verlassen uns schließlich zurück nach Kaschgar und setzen ihre Reise in die entgegengesetzte Richtung fort. Wir harren weiter mit Julia, Simon, Mike und Miro in Tashkurgan aus. Doch zum Glück gefällt es Sebastian und mir dort wesentlich besser als den vier Anderen, die den Ort so schnell es geht verlassen möchten. Wir genießen die Möglichkeit, mal ganz entspannt und ohne jeglichen Verkehrslärm spazieren gehen zu können und nutzen die freie Zeit, am Blog zu arbeiten. Doch das Gefühl aufkeimender Unruhe können wir nicht unterdrücken: Bald schon, am Montag, soll die Grenze zu Pakistan wieder öffnen. Aber werden wir dann wirklich ausreisen dürfen? Und werden wir es schaffen, uns zwei der begehrten Bustickets zu ergattern? Lies den zweiten Teil des Berichts Auf dem chinesischen Karakorum Highway – Teil 2.
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Spektakuläre Bilder! Ich bin auf Teil 2 gespannt 🙂
Liebe Grüße 🙂
Danke dir! 🙂 Teil 2 kommt bald, ist schon in der Endredaktion 😉