Müde streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mir ist heiß. Seit fast einer halben Stunde irren wir bereits durch den Bahnhof von Kalyan und schaffen es nicht, unseren Couchsurfing-Gastgeber Dheeraj zu finden. Zu unkonkret sind die Beschreibungen, wo wir uns treffen sollen, denn es gibt wenig Greifbares. Überall sind Menschen, überall stehen grün-gelbe Tuktuks und überall herrscht ein ohrenbetäubendes Hupkonzert. Schließlich bleibt uns nichts übrig, als unser Handy einem vorbeilaufenden Mann in die Hand zu drücken, der uns Dheerajs Ortsangabe weitergibt und uns den richtigen Weg weist.
Ist er das? Schnell schauen wir nochmal auf das Foto aus der Couchsurfing-App, auf dem sich Dheeraj lasziv am Pool räkelt. Hätte er nicht auf seine Frau und Kinder verwiesen, hätten wir uns eventuell gegen ihn als Gastgeber entschieden. Doch, na endlich! Da vorne mit dem kleinen Mädchen an der Hand, das muss er sein!
Zwei Stunden später sitzen wir entspannt auf dem Sofa und haben bereits den ersten Tee getrunken. Die Kinder Divija und Aarush haben ihre Scheu vor uns verloren und wollen Ball spielen. Dheerajs Frau Mona und die alte Auntie aus ihrem Heimatort schauen uns fragend an: Was möchten die zwei Gäste essen? Doch da sind wir anspruchslos. Das Essen der Familie ist auch für uns bestens, wenn es nur nicht ganz so scharf ist. Alle lachen. Dass die Ausländer nicht so ganz auf Chili stehen, das wissen sie schon. Und so verspricht Mona, für uns auf Chili zu verzichten.
Doch beim Essen lernen wir dann, dass „Verzicht auf Chili“ ein sehr dehnbarer Begriff zu sein scheint. Für mich heißt es einfach: kein Chili. Auch keine Chiliflocken. Für Mona und Dheeraj heißt es: nur ein bis zwei Chilischoten statt den üblichen vier bis sieben, je nach Größe… Als ich meine Überraschung anspreche, reagiert Dheeraj geschockt. „But without Chili it doesn’t taste at all!“ So ganz ohne Chili scheint es nicht zu gehen und die Kinder Divija und Aarush, gerade mal vier und zwei Jahre alt, schieben sich das Essen ohne zu zögern mit der Hand in den Mund. Ihnen scheint es nicht zu scharf zu sein.
Am nächsten Tag machen wir uns alleine auf den Weg hinein nach Downtown Mumbai. Dheeraj und Mona geben uns eine ganze Batterie an Vorsichtsmaßnahmen und Ratschlägen mit auf den Weg, inklusive der Vorgabe, um spätestens 18 Uhr wieder zu Hause zu sein. Ich mag die beiden sehr, doch dieses bemuttert werden löst einen undefinierbaren Widerstand in mir aus. Denn es scheint keinen klaren Grund für die 18 Uhr-Vorgabe zu geben, außer dass es sonst so spät werde und die Züge so voll. Da wir erst gegen 12 Uhr das Haus verlassen, können wir uns kaum gegen 17 Uhr schon wieder auf den Heimweg machen, denn der Zug vom Vorort Mumbais braucht gut eine Stunde hinein in die Innenstadt. Doch wir nicken freundlich mit dem Kopf und denken uns, jaja, wir werden sehen.
Auch gestern kamen wir mit dem Vorortzug vom Bahnhof Mumbais nach Kalyan gefahren und freuten uns über ein fast leeres Abteil. Heute, in die andere Richtung, haben wir leider weniger Glück. Der Bahnhof ist voller Menschen und der erste Zug, der in den Bahnhof einfährt, ist bereits so brechend voll, dass wir ihn einfach durchfahren lassen. Hoffentlich sieht es im nächsten Zug besser aus. Doch auch dieser ist voll und weil wir unseren Tag heute nicht am Bahnhof von Kalyan verbringen wollen, quetschen wir uns in den Waggon. Durch die stets offenstehenden Türen weht frische Luft hinein und eine Traube Menschen hängt sich neugierig aus der Türe hinaus. Sebastian steht direkt hinter mir und nur mein Rucksack, den ich vor den Bauch genommen habe, schützt mich vor zu viel Körperkontakt mit dem vor mir Stehenden. Zum Glück fahren wir bis zur Endhaltestelle, irgendwann wird der Zug leerer und wir bekommen einen Sitzplatz. Selten sind wir bislang in so massiv überfüllten Zügen gefahren.
In der Innenstadt Mumbais angekommen, wandern wir durch die Straßen, statten dem Gateway of India einen Besuch ab, schauen den Ausflugsbooten zu, die über die Wellen tanzen und freuen uns, endlich am Meer zu sein. Der Wind trägt die salzige Luft zu uns herüber und ich bin glücklich. Bald werden wir am Strand sein, ich freue mich schon so darauf! Städte am Wasser finde ich immer toll, sie haben eine so entspannte und urlaubshafte Atmosphäre. Und im Fall von Mumbai auch endlich mal eine erträgliche Luftqualität.
Als wir bemerken, dass wir bereits drei Anrufe in Abwesenheit von Dheeraj erhalten haben, ist es schon nach 17 Uhr. Ein etwas schlechtes Gewissen macht sich in mir breit, aber auch ein Widerwille. Wir sind nicht 12 Jahre alt und Dheeraj nicht unser Vater. Wenn alle Stricke reißen, werden wir mit dem Taxi nach Kalyan fahren, so teuer kann das ja nicht sein.
Etwas missmutig verlassen wir irgendwann den schönen Marine Drive an Mumbais Westseite mit seiner frischen Meeresluft und laufen zurück ins Zentrum zum Bahnhof. Der Bahnhof quillt über im Feierabendchaos und es dauert etwas, bis wir uns zum richtigen Zug durchgefragt haben. Er ist bereits überraschend voll, dafür, dass er hier ja erst beginnt. Wir bekommen nur noch einen Stehplatz, dieses Mal aber immerhin an der Wand. Die Fahrt beginnt, wie immer sind die Türen offen. Schnell fahren wir heraus aus dem Zentrum Mumbais, der nächste Bahnhof kommt bereits in Sicht und der Zug verlangsamt seine Fahrt.
Ein Ruck geht durch die Stehenden, als auf einmal Menschen während der Fahrt in den Zug hineingesprungen kommen und sich in das sowieso schon volle Abteil schieben. Bei den nächsten Haltestellen beginnt mir das Herz zu klopfen. Sobald der Zug seine schnelle Fahrt vor einem Bahnhof zu verlangsamen beginnt, drücken sich die Fahrgäste, die aussteigen möchten, an die offenen Türen und springen auf den menschenüberfüllten Bahnsteig. Die dort Stehenden warten jede sich bietende noch so kleine Lücke ab und springen ihrerseits in den fahrenden und vollgestopften Zug. Was, wenn Hinausspringende und Hineinspringende zusammenprallen? Was, wenn jemand von den hinten Schiebenden einfach während der Fahrt aus dem Zug gedrückt wird? Was, wenn jemand die Türe des fahrenden Zuges bei seinem Sprung hinein verpasst und abprallt?
Das ganze Szenario dauert nur wenige Sekunden, schon stoppt der Zug am Bahnhof und die restlichen Aussteigenden müssen ihre ganze Kraft aufwenden, noch aus dem Zug zu kommen, bevor die hunderte Einsteigewilligen sich in das volle Abteil drücken. Es ist stickig heiß hier drinnen und neben mir spüre ich das klebrige Hemd meines Nebenstehers. Warum bin ich nicht ins Frauenabteil gegangen? Dort ist es zwar genauso voll, aber immer noch angenehmer als hier. Und wie sollen wir selbst eigentlich aussteigen? Ich will auf keinen Fall während der Fahrt auf den Bahnsteig springen, was wenn es nicht klappt? Werde ich dann vom Zug überfahren?
So beschließen wir, falls der Zug in Kalyan immer noch so voll sein sollte, einfach bis zur Endhaltestelle zu fahren, denn die ist auch nicht viel weiter. Doch glücklicherweise hat sich die Lage bis zu unserem Stopp schon etwas entspannt. Zwar springen immer noch Leute aus der Türe, doch nette Mitfahrer halten uns fest und geben uns ein Zeichen, als wir aus dem nun schon sehr langsam fahrenden Zug gefahrlos aussteigen können. Auf dem Bahnsteig angekommen merke ich, dass meine Handflächen nass geschwitzt sind und ich ein Herzschlag wie nach einem Sprint habe. Ich bin so erleichtert, unfallfrei aus diesem Zug herausgekommen zu sein, dass ich richtig müde werde.
Doch viel Zeit nachzudenken bleibt nicht, denn Dheeraj steht mit der schlafenden Divija auf dem Arm vor uns auf dem Bahnsteig und führt uns zu einem Tuktuk. Da er Divija schlafend auf seinem Motorrad nicht mitnehmen kann, bekomme ich sie auf den Arm gedrückt. Sie wacht während der ganzen Fahrt nicht auf und der einsteigende Mann lächelt uns nett zu, als er neben uns Platz nimmt, denn er fährt in die selbe Richtung.
Zum Abendessen hat sich Mona die größte Mühe gegeben, für mich chilifrei zu kochen und dieses Mal bin ich sehr zufrieden. Dheeraj und Mona lachen. Wie kann ein erwachsener Mensch nur so wenig Chili mögen, das gilt doch sonst nur für Babys. Den Abend verbringen wir zusammen zu Hause, Divija und Aarush wollen für uns tanzen, doch da sie sich alleine nicht so ganz trauen, tanze ich irgendwann mit. Alle sind begeistert, doch als ich den Tanz-Staffelstab weiterreichen möchte, werden Mona und Dheeraj ganz still und verziehen sich schnell in die Küche. Von ihnen werden wir wohl keinen Bollywood-Tanz vorgeführt bekommen 🙂
Ein paar Eindrücke aus Mumbai haben wir in diesem kurzen Video festgehalten:
Die Zeit in Mumbai vergeht wie im Flug und auf einmal ist es schon Sonntag. Heute Abend möchten wir mit dem Bus nach Goa fahren, das Meer und unsere Augsburger Freundin Kathi erwarten uns. Doch bis der Bus fährt, ist noch viel Zeit und Dheeraj tüftelt bereits an der Gestaltung des Tages.
„Do you like Dosa?“, fragt mich Mona und erst später weiß ich, dass mein „Ja“ die falsche Antwort auf diese Frage war. Dosa ist eines meiner indischen Lieblingsessen. Wie ein riesiger Pfannkuchen aussehend, isst man das Gericht mit einer Kartoffelcurrymischung und drei verschiedenen Saucen. Durch mein „Ja“ ist unser Frühstück gesetzt und ich bin erstaunt. Dosa kommt mir sehr zeitaufwändig in der Vorbereitung vor: Teig für die Dosa selbst, die Füllung und drei Saucen gilt es vorzubereiten. Meine Befürchtungen werden bestätigt und als ich anbiete zu helfen, wird mir sofort eine Aufgabe zugeteilt. Nach über zwei Stunden in der Küche ist endlich Frühstückszeit. Hätte ich nicht vorhin schon ein paar Bananen gegessen, hätte ich nicht bis jetzt durchgehalten.
Die Dosa ist lecker, doch hat leider auch unsere Tagesplanung sehr durcheinander gebracht. Die befreundete Familie, die wir nachher an einem Jain-Tempel treffen werden, muss fast drei Stunden auf unser Erscheinen warten. Unglaublich, dass sie noch da sind! Wohl niemand den ich kenne, hätte solange ohne Vorwürfe gewartet. Auch unser Besuch des Jain-Tempels ist nicht ganz so entspannt wie ich gehofft hatte, denn die Kinder wollen bald schon wieder etwas essen. Also quetschen sich die Frauen und Kinder auf die Rücksitzbank und Sebastian bringt mit seinem Wunsch, nicht auf dem Motorrad mitfahren zu müssen, das Konzept etwas aus dem Plan. Doch ich nehme seinen Platz gerne ein und Divija hat nichts dagegen, bei ihrem „Uncle“ vorne auf dem besten Sitz Platz zu nehmen.
Zwei Stunden später angekommen zu Hause, bricht auf einmal die Hektik aus. Es ist viel später als gedacht, wir haben noch nicht gepackt und bald fährt bereits unser Nachtbus. Dheeraj treibt uns zur Eile an und schnell stopfen wir unsere Sachen in die Rucksäcke.
Auf dem Weg Richtung Busbahnhof, der doch weiter weg ist als wir zuerst dachten, ruft uns der Busbegleiter an. Dheeraj ist entspannt und erklärt, wir wären in 10 Minuten da, obwohl uns Google Maps 35 Minuten ansagt. 8 Minuten später ruft der Busbegleiter erneut an. „No problem, we’ll be there in 5 minutes.“ Google Maps sagt 25 Minuten… „Wie lange wird der Bus wohl warten?”, fragt Sebastian Mona und Dheeraj. Dheeraj winkt ab. „Wir warten auch auf den Bus, wenn er zu spät ist. Es ist selbstverständlich, dass er auch auf uns wartet, sollten wir uns mal verspäten.“ Hmm, in Deutschland kann ich mir eine solche Haltung nicht vorstellen. Aber hoffen wir mal, dass das hier tatsächlich stimmt. Wieder klingelt das Telefon. „We will leave in 5 minutes“, sagt der Busbegleiter ungeduldig. „Ok, ok“, wird er von Dheeraj abgewimmelt und als er auflegt, brechen er und Mona in Gelächter aus und machen sich über den armen Mann lustig. Ich bin überrascht, was für ein großer Spaß es für sie ist, den Mann hinzuhalten und ich bin genauso überrascht, als wir endlich mit viel zu hoher Geschwindigkeit um eine Ecke biegen und den Bus tatsächlich noch an der Straße stehen sehen.
Sofort springe ich aus dem Auto und bringe mit einem „We are so sorry!“ unsere Rucksäcke zum Gepäckfach. Ich erwarte, im Bus von genervten Fahrgästen ausgebuht zu werden, doch alle liegen bereits in den Betten und scheinen einen Film auf ihrem Handy anzuschauen.
Wir verabschieden uns herzlich von Mona und Dheeraj. Dieses Couchsurfing, obwohl wir nur drei Nächte da waren, war wie der Beginn einer neuen Freundschaft. Wir wollen den Bus nicht noch länger warten lassen und steigen ein. So luxuriös sind wir wohl noch nie in einem Nachtbus gefahren. Auf zwei Etagen sind Betten eingebaut, auf der rechten Seite mit einer Doppelmatratze, auf der linken Seite mit einer einfachen. Es gibt einen Vorhang, mit dem wir unser Schlafabteil zum Gang hin abtrennen können, haben Licht, Lüftung, Steckdosen und natürlich das Fenster neben uns. Zudem gibt es Kissen und Decken. Nicht schlecht!
Wir wundern uns, dass wir immer noch auf der Straße stehen, obwohl wir doch nun endlich da sind. Fehlen etwa noch andere Fahrgäste? Und tatsächlich, nochmal gute 10 Minuten nach uns trudelt ganz entspannt ein Pärchen ein, von Hektik keine Spur und nimmt endlich auf seiner Matratze Platz. Der Motor startet, der Bus beginnt zu vibrieren und langsam rollen wir an Mona und Dheeraj vorbei, die uns winken. Zufrieden lehnen wir uns auf unserem komfortablen Bett zurück und lächeln vor uns hin. Denn nun fahren wir endlich an das langersehnte Meer!
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