Es ist 5.10 Uhr als uns der Wecker aus dem Schlaf reißt. Heute geht es los! Noch nicht ganz wach, suche ich im Dunkeln nach dem Lichtschalter. Als sich meine Augen endlich an den grellen Schein der romantischen Neonbeleuchtung gewöhnt haben, blicke ich auf unsere Rucksäcke, die bereits gepackt an der Zimmertüre stehen. Mein erster Gedanke: Das ist immer noch zu viel! Zwei oder vielleicht drei Wochen werden wir ab heute in den Bergen des Annapurna-Nationalparks unterwegs sein und das ohne Bergführer oder Träger.
Nachdem wir die Morgentoilette abgeschlossen und die letzten Dinge im Rucksack verstaut haben, müssen wir auch schon los. Es sind nur wenige Meter von unserem Zimmer bis zum Eingangstor unserer Unterkunft, doch wird uns bereits auf dieser kurzen Strecke klar, dass unsere Rucksäcke zu schwer sind. „Nehmt nur das Allernötigste mit!“, war der dringende Appell unserer argentinischen Bekannten, die die Wanderung bereits vor ein paar Monaten gemacht haben. Obwohl wir uns beim Packen am Vorabend redlich bemüht haben, alles auszusortieren, was nicht unbedingt über einen 5.400 Meter hohen Pass getragen werden muss, ist es trotzdem noch zu viel.
Bevor wir mit dem Taxi zum Busbahnhof fahren, klingeln wir daher unsere netten tibetischen Herbergseltern aus dem Bett. Die dicken Winterschlafsäcke bleiben hier. Da wir nicht vorhaben, im Freien zu übernachten, müssen es die Decken tun, die wir (hoffentlich) in den Unterkünften unterwegs bekommen werden. Ob wir diese Entscheidung noch bereuen werden? Ganz sicher sind wir uns nicht.
Pünktlich kommen wir am Busbahnhof an und starten um 6.30 Uhr zusammen mit den ersten Sonnenstrahlen und einer Busladung wanderlustiger Touristen in unser Abenteuer. Vier Stunden lang lassen wir uns auf für nepalesische Verhältnisse überraschend guten Straßen durchschaukeln, bevor wir mit dem Dorf Besi Sahar (760 m) den Ausgangspunkt unserer Wanderung im Himalaya erreichen. Nach und nach brechen kleine Grüppchen ausländischer Touristen auf und auch wir sind irgendwann startklar. Gegen 11 Uhr beginnt unser erster Wandertag.
Leo ist die vor uns liegende Wanderung im Jahr 2007 schon einmal gelaufen. Damals in einer geführten Gruppe mit Guide und Trägern. Dieses Mal sind wir auf uns allein gestellt und auch unsere Rucksäcke müssen wir Schritt für Schritt selbst nach oben transportieren. Für mich ist eine solch lange Wanderung ein Novum. Meine längste Bergtour war bislang eine Zweitageswanderung in den österreichischen Alpen. Nun wartet ein ganz anderes Kaliber auf uns.
Die Sonne lacht vom Himmel, es ist überraschend warm. Voll motiviert machen wir uns auf zu unserer ersten Tagesetappe. Als wir nach gerade einmal einem Kilometer an einer Weggabelung stehen, bekommt unsere Euphorie einen ersten Dämpfer. Unsere Wanderkarte stellt sich als mehr oder weniger unbrauchbar heraus, da viele Alternativwege dort gar nicht eingezeichnet sind. Zum Glück haben wir noch unser Handy mit GPS-Offlinekarte dabei, in der (fast) alle Wanderwege vermerkt sind.
An der ersten Abzweigung entscheiden wir uns gleich für die Alternative zum Hauptwanderweg, da letzterer am ersten Tag ausschließlich auf der staubigen Schotterstraße entlangführt, auf der auch immer wieder Geländewagen, Busse und Lastwagen unterwegs sind. Hätten wir gewusst, dass der Alternativweg zunächst einmal viele Höhenmeter steil nach oben führt, hätten wir uns vielleicht anders entschieden. Sind wir soeben noch durch unseren beschwingten Laufstil aufgefallen, so kann man nun beobachten, wie wir uns auf einem schmalen Pfad schwitzend und schwer atmend langsam bergan bewegen. An diesem ersten Tag sind unsere Schultern das Gewicht unserer Wanderrucksäcke einfach noch nicht gewohnt.
Oben angekommen, müssen wir erst einmal eine Pause machen. Um unsere Rucksäcke zumindest ein wenig leichter zu bekommen, genehmigen wir uns einen großen Schluck Wasser und naschen von unserem reichhaltigen Proviant. Zu Essen gibt es Brot mit Wurst, Yak-Käse, Gurke und Tomaten.
Frisch gestärkt setzen wir unseren Weg fort; nun geht es gleich viel leichter von den Beinen. Der anstrengende Aufstieg zu Beginn der Etappe ist schnell vergessen, denn die Landschaft ist hier äußerst abwechslungsreich, an jeder Ecke gibt es etwas Neues zu entdecken. Womit ich nicht gerechnet hätte: Auf einer Wanderung ins Himalaya-Gebirge kommen wir an Bananenpalmen vorbei und sehen sogar Affen.
Obwohl wir auf einem der wohl bekanntesten und meistgelaufenen Rundwanderwege der Welt unterwegs sind, haben wir wohl Glück und begegnen an unserem ersten Tag keinen weiteren Touristen auf der Strecke. Stattdessen beobachten wir die hier lebenden Menschen beim Bestellen ihrer in Terrassenform angelegten Felder und scherzen mit ein paar neugierigen Kindern, für die wir wohl nicht die ersten ausländischen Besucher sind. „Give me dollar, give me euro!“, hören wir heute mehr als einmal.
Nach fünf Stunden Fußmarsch kommen wir schließlich zufrieden, aber müde im Örtchen Bhulbhule an, wo wir uns unser erstes Nachtlager suchen. Erfreulicherweise werden wir schnell fündig und sind im zweckmäßig eingerichteten Guesthouse, das über 20 Zimmer verfügt, die einzigen Gäste. „It´s because of the road“, teilt uns unser Gastwirt mit. Bevor die weit ins Tal hineinreichende Straße gebaut wurde, verbrachten fast alle Wanderer in Bhulbhule ihre erste Nacht. Doch nun lassen sich viele von Jeeps weiter nach oben fahren, um die Wanderung zu verkürzen und ausschließlich im Hochgebirge unterwegs zu sein. Für die Bewohner des Tals ist die Straße daher Segen und Fluch zugleich.
Am nächsten Morgen starten wir nach einer Portion Spiegeleier mit Toast ausgeruht in Tag 2 unserer Wanderung. Unsere Rucksäcke fühlen sich immer noch schwer an, aber da wir lange und gut geschlafen haben, wird es schon irgendwie gehen. Nachdem wir bereits eine halbe Stunde unterwegs sind, werden wir von Audrey aus Kanada und Peta aus Australien eingeholt. Die beiden sind unabhängig voneinander nach Nepal gereist und haben sich in einem Hostel in Kathmandu kennengelernt. Wir kommen mit ihnen ins Gespräch und sind so an diesem Tag als Vierergruppe unterwegs.
Auch an den kommenden Tagen treffen wir immer wieder andere Wanderer, viele von ihnen aus Europa, Nordamerika oder Israel. Die meisten Begegnungen beschränken sich auf „Hello, how are you?“, oder „Hi, where are you from?“. Doch abends in den Unterkünften ergeben sich auch tiefergehende Gespräche. Obwohl wir uns mit mehreren Wanderern gut verstehen, bevorzugen wir es am Tag zu zweit unterwegs zu sein. Den anderen geht es ähnlich, nur selten bilden sich größere Gruppen. Die Gehtempi sind einfach zu unterschiedlich und niemand möchte sich gerne hetzen lassen oder ständig warten. Allgemein sind wir jedoch überrascht, dass Wege und Unterkünfte relativ leer sind. Mitte März scheint hier noch Vorsaison zu sein.
Allmählich spielt sich in unserem Tagesablauf eine gewisse Routine ein: Frühstück um 7 Uhr, Abmarsch zwischen 8 Uhr und 8.30 Uhr, dann 3-4 Stunden wandern und ein geeignetes Plätzchen zum Mittagessen suchen. An den ersten Tagen haben wir noch ausreichend Proviant dabei und verpflegen uns mittags selbst. Nachdem die Vorräte aufgebraucht sind, steigen wir auf Kürbissuppe mit Reis um, eine leckere Stärkung am Mittag.
Worauf wir neben einer ausreichenden Kalorienzufuhr achten müssen: genug zu trinken. Zwar wird fast überall Wasser in Einweg-Plastikflaschen verkauft, doch zum Glück sind wir darauf nicht angewiesen. Hier im Gebirge können wir endlich mal wieder unseren SteriPEN einsetzen, der mittels einer UV-Lampe Bakterien und Viren aus dem Leitungswasser entfernt. Der Geschmack des Wassers bleibt dabei unbeeinflusst. Spart Geld und vor allem Müll.
Nach ein paar Tagen sind wir bereits so weit in die Berge hineingewandert, dass zum ersten Mal schneebedeckte Gipfel vor uns auftauchen. Zwar ist es tagsüber noch immer angenehm warm, sodass wir meist ohne Jacke unterwegs sein können, doch die Nächte werden inzwischen empfindlich kalt. Da die Gasthäuser zu dieser Zeit nicht ausgebucht sind, bekommen wir auf Nachfrage zusätzliche Wolldecken für unser Bett. Frieren müssen wir nicht.
Mittlerweile haben wir uns an die tägliche Belastung gewöhnt, doch an Tag 5 wird es trotzdem happig. Etwas später als sonst sind wir von unserer Mittagspause aufgebrochen und peilen das in Bratang eingezeichnete Guesthouse als unseren heutigen Übernachtungsplatz an. Als wir Bratang gegen 16 Uhr erreichen, sind wir bereits müde und freuen uns, endlich da zu sein. Eigentlich beginnt nun die Sondierung der zahlreichen Unterkünfte, doch hier gibt es nur ein einziges Hotel. Und zwar ein richtiges Hotel!
Normalerweise sind die Gasthäuser im Annapurna-Gebirge von Familien betriebene Homestays, in denen man für einen geringen Betrag oder sogar kostenlos übernachten darf, sofern man Abendessen und Frühstück im zugehörigen Restaurant ordert. Die Unterkünfte sind in der Regel schlicht, aber zweckmäßig und im besten Fall zudem sauber und gemütlich. Doch hier in Bratang steht tatsächlich ein riesiges und sehr hübsch aussehendes Hotel.
Wir fragen uns, welchen Sinn es wohl macht, in einem Mini-Örtchen ohne normale Wohnhäuser ein offensichtlich überdimensioniertes Hotel zu eröffnen, aber uns soll es recht sein. Leider stellt sich schnell heraus, dass wir hier nicht übernachten werden, denn umgerechnet 50 Euro für ein Zimmer ist in etwa so viel, wie wir während der Wanderung an zwei Tagen ausgeben – alles mit eingerechnet.
Alle Versuche zu handeln laufen ins Leere und so schultern wir kurz vor halb 5 Uhr erneut unsere Rucksäcke. Die Sonne hat sich zu dieser Zeit längst hinter den Berggipfeln verkrochen und auch wir haben keine rechte Lust mehr. Allmählich wird es kalt und wir legen zum ersten Mal all unsere Jacken an, um nicht zu frieren. Als wir nach über einer Stunde Fußmarsch bergauf endlich im nächsten Ort und bei einem „normalen“ Guesthouse ankommen, sind wir richtig erschöpft und wollen nur noch raus aus unseren Wanderklamotten. Morgen müssen wir unbedingt früher nach einer Unterkunft suchen.
Tag 6 beginnt regnerisch. Obwohl wir uns in der Hoffnung auf eine Wetterbesserung beim Frühstück extra lange Zeit lassen, hat der Wettergott kein Einsehen. Zum ersten Mal brechen wir mit Regenjacken auf und müssen auch unsere Rucksäcke mit Regencapes vor der Nässe schützen. Trotzdem sind wir guter Dinge und starten frohen Mutes in die nächste Etappe.
Die meisten anderen Wanderer sind bereits vor uns aufgebrochen und so haben wir die Wege für uns alleine. Wieder einmal entscheiden wir uns für eine Alternative zum Hauptwanderweg, der über schmale Pfade bergauf führt. Immer wieder kommen wir an langen Reihen voller Gebetsmühlen vorbei, an denen wir im Einklang mit dem hier gelebten buddhistischen Glaube links entlanggehen. Während Leo die Gebetsmühlen im Vorbeigehen fleißig in Bewegung setzt, denke ich bereits an die Mittagspause. Bei grauem Wetter und ungemütlichen Regenschauern macht mir das Wandern heute nicht ganz so viel Spaß.
Doch noch trennt uns ein Anstieg von 400 Höhenmetern vom nächsten in der Karte eingezeichneten Restaurant. Kurz vor unserem letzten Übernachtungsstopp hatten wir die 3.000er Marke am Vortag bereits hinter uns gelassen; langsam aber sicher wird die Luft dünner. Ein Apfel und zwei Müsliriegel versorgen uns mit zusätzlicher Energie und so arbeiten wir uns Meter um Meter voran. Auf der Hälfte des Anstiegs überholen wir sogar drei russische Wanderer, die uns von ihrem Besuch beim Base Camp eines 7.000ers am Vortag erzählen. Verschwitzt aber zufrieden erreichen wir schließlich das Yak Ru Guesthouse auf 3.702 Metern.
Da sich das Wetter auch nach einer wärmenden Nudelsuppe nicht bessert, beschließend wir, einfach hier zu bleiben und erst am nächsten Tag weiterzuwandern. Am Nachmittag erkunden wir den kleinen Ort und brechen zu einem Akklimatisierungs-Spaziergang auf. Ab 3.000 Metern kann die Höhenkrankheit zum Problem werden und wir wollen auf Nummer sicher gehen.
Obwohl wir zu Fuß ja nicht gerade schnell nach oben steigen, kommt der Körper mit der Anpassung an die dünne Luft nicht wirklich hinterher. Um das Risiko einer Höhenkrankheit so gering wie möglich zu halten, wird es zu unserem täglichen Ritual, vor dem Abendessen noch einmal 200 Meter aufzusteigen, dort eine halbe Stunde zu verweilen und anschließend zur Unterkunft zurückzukehren. Getreu der Empfehlung „Climb high, sleep low!“.
Als wir am nächsten Morgen aus dem Fenster blicken, wird uns klar, dass sich unsere Entscheidung, aufgrund des schlechten Wetters am Vortag früher Schluss zu machen, mehr als gelohnt hat. Über Nacht hat es etwa 10 Zentimeter geschneit und die Bergwelt um uns herum in einen weißen Mantel gehüllt. Dazu strahlend blauer Himmel. Heute wird das Frühstück kürzer als sonst ausfallen, wir wollen nach draußen!
Eine der schönsten Etappen der gesamten Wanderung dürfen wir bei diesem Kaiserwetter erleben und nutzen die perfekten Bedingungen für zahlreiche Fotos. Für Tage wie heute sind wir unterwegs und wir können uns an der einmaligen Landschaft mitten im Himalaya gar nicht sattsehen. Über 7.000 Meter sind die Berge hoch, die wir den Tag über in ihrer ganzen Schönheit betrachten dürfen.
Als wir 18 Kilometern später den Ort Manang erreichen, sind wir müde aber glücklich. Die erste Woche unserer Wanderung liegt hinter uns. Unglaublich, dass wir uns in so kurzer Zeit von gut 700 Metern auf 3.500 Meter hochgearbeitet haben. In Manang werden wir unseren ersten Pausentag einlegen, bevor es danach weiter in Richtung Thorong-La-Pass, dem höchsten Punkt unserer Wanderung, geht. Nach einem geselligen Abendessen, bei dem wir wie geplant Audrey und Peta wiedertreffen und bei dem es sogar Pizza zu essen gibt, sinken wir auf unsere Betten und kurz darauf in einen tiefen Schlaf.
Wie es für uns auf dem Weg zum Thorong-La-Pass weitergeht, lest ihr hier im zweiten Teil des Berichts.
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