Mit Schwung fahren wir den Berg hinunter. Endlich ist die Straße gut und wir können die Räder rollen lassen. In Serpentinen verlieren wir schnell die Höhe, in wir uns in den letzten Tagen mühsam erarbeitet haben. Recht uns links liegen kleine Häuser, Hühner und Hunde laufen an der Straße entlang, doch letztere lassen uns hier endlich mal in Ruhe. Wir biegen um die nächste Ecke, die Straße ist schmal geworden. Das Dorf liegt hinter uns und statt Häusern erhebt sich am Wegesrand nun undurchdringliches Grün.
Erst spät bemerke ich die zwei reglos auf der Straße stehenden Wasserbüffel. Ich werde langsamer. Die großen dunklen Augen aufgerissen, die Nüstern bebend, schauen sie mich erschrocken an. In meinem rosa T-Shirt haben sie mich wahrscheinlich gleich entdeckt. Die Straße ist eng. Kann ich gefahrlos an den massigen Tieren vorbeifahren? Ich verlangsame mein Tempo weiter, Sebastian hat mittlerweile zu mir aufgeschlossen. Was nun?
Langsam nähern wir uns den zwei wie versteinerten Wasserbüffeln. Es wird uns klar, dass die beiden nicht ins Gebüsch ausweichen können, denn ein Zaun versperrt ihnen den Weg. Wir rollen immer näher an sie heran, sollen wir uns auf der engen Straße an ihnen vorbeischlängeln? Während wir noch unschlüssig hin und her überlegen, nehmen uns die Wasserbüffel die Entscheidung ab: Mit einem lauten Schnauben drehen sie sich plötzlich um und galoppieren in schnellem Tempo los. Langsam und mit Abstand fahren wir hinterher. Wir legen keinen Wert darauf, dass die beiden riesigen Tiere auf einmal die Richtung ändern und statt von uns weg auf uns zugerannt kommen. Einige hundert Meter rennen sie vor uns her. Dann endlich gibt es eine Lücke im Grün und sie verschwinden.
Wir nehmen langsam wieder Fahrt auf und lassen die Räder weiter bergab rollen. Meine Gedanken schweifen nach Dalat ab, wo wir vor zwei Wochen unsere Fahrrad-Etappe durch die Berge Vietnams begannen.
Im Hochland Vietnams
Nach unserem Pausentag im Nostress Guest House in Mui Ne schwingen wir uns wieder auf unsere Räder. Einen Tag die Beine zu schonen tat gut! Wir folgen der Küstenstraße für 53 Kilometer nach Norden und biegen nach Westen, in Richtung Berge, ab. Von allen Seiten wurden wir vor dem anstrengenden Anstieg von der Küstenregion hoch nach Dalat, im Hochland Vietnams gelegen, gewarnt. Schließlich entscheiden wir uns, das erste Stück des Weges mit dem Fahrrad zurückzulegen und für den größten Anstieg einen Bus zu nehmen. Unsere Fahrräder werden unkompliziert hinten auf die letzten Sitze gelegt.
Angekommen in Dalat frösteln wir. Auf einmal sind wir auf 1500 Meter und jetzt mitten am Tag liegen die Temperaturen bei etwa 20 Grad. Kein Vergleich zu der tropischen Hitze der letzten Tage. Quartier beziehen wir im sehr netten und gut gelegenen Thien Kim Guesthouse.
Dank unseres Vorhabens, Vietnam mit dem Fahrrad zu bereisen, lernen wir das touristische Dalat auf eine andere Art und Weise kennen: Wir suchen Fahrradgeschäfte. Nach einigen erfolglosen Versuchen finden wir schließlich Dinhs Geschäft und landen mit ihm einen Glückstreffer! Er ist überaus hilfsbereit und kompetent und kennt sich zusätzlich in der Gegend bestens aus. Mit ihm besprechen wir unsere weitere Route und bekommen viele Tipps. Wir entscheiden uns, dem Ho-Chi-Minh-Highway durch die Berge zu folgen. Am Ende unseres Gesprächs wirft er einen Blick auf unsere Fahrräder und stellt unsere Bremsen nach.
„Do you have enough spare parts? You have to bring everything you need for your bicycles. There are no bicycle shops on the way.” Wir zählen Dinh unsere Fahrrad-Reparaturausrüstung auf: Im Gepäck haben wir einen Ersatzschlauch pro Fahrrad, ein Flickset und eine Fahrradpumpe. Er sieht uns skeptisch an. „No break pads? No Allen key? Only one spare tube per bike? Nothing to clean the chains?“ Dinh schüttelt den Kopf. In seinen Augen sind unsere drei Habseligkeiten nicht der ausreichende Ersatzteilvorrat für eine 600 Kilometer lange Strecke durch die Bergregion. Kurzerhand setzt er sich auf sein eigenes Fahrrad und bedeutet uns, ihm zu folgen. Im Geschäft seines Freundes drückt er uns nun nochmal zwei Ersatzschläuche, einen Inbusschlüssel zum Öffnen der Bremsen, 12 Bremsbeläge und ein Kettenspray in die Hand. Mehr Gewicht für unser Gepäck, aber bestimmt sinnvolle und hilfreiche Dinge.
Von Dalat nach Buôn Ma Thôut, 225km, 4 Tage. Nichts ist grüner als Reisfelder.
Nach einem Tag Pause in Dalat geht es am Freitag wieder los für uns. Eigentlich hatte Dinh uns versichert, die schweren Anstiege im Hochland würden erst ab dem zweiten Fahrtag beginnen, doch bereits die steile Fahrt an den Stadtrand von Dalat bringt mich zum Schwitzen.
Unser Weg führt uns über gute Straßen vorbei an den ersten Kaffeeplantagen. Dalat und die gesamte Region ist für ihren Hochlandkaffee bekannt. Wir folgen unserer Karten-App auf dem Handy und sind Dinh für den ein oder anderen Tipp für eine Abkürzung dankbar. Abends finden wir ein nettes kleines Nha Nghi, ein vietnamesisches Guesthouse, und nach unserem täglichen Abendprogramm – duschen, Wäsche waschen, essen – fallen wir zeitig und müde ins Bett.
Der kommende Tag begrüßt uns mit blauem Himmel und schon früh sitzen wir auf den Rädern. Wir genießen es, über kleine Straßen zu fahren und rechts und links die Kaffeeplantagen zu sehen. Nach dem Mittagessen bei einem älteren Herrn, der die vegane Ernährung für sich entdeckt hat, überrascht uns der mittägliche Regenschauer früher als sonst. Wir stellen uns unter, eigentlich haben wir heute noch 15 Kilometer und einen steilen Anstieg vor uns. Doch der Regen hört nicht auf. Schaffen wir die kommende Etappe überhaupt noch vor der Dunkelheit? Wir überlegen eine Weile und beschließen dann, uns lieber hier in Đinh Văn eine Unterkunft zu suchen.
Am nächsten Morgen erst wird uns klar, dass das eine weise Entscheidung war. Direkt hinter Đinh Văn beginnt sich die Straße in die Höhe zu schrauben. Über eine Strecke von 10 Kilometern strampeln wir uns 500 Höhenmeter nach oben. Zum Glück ist es noch früh am Tag und damit noch nicht so heiß, trotzdem müssen wir immer wieder anhalten und etwas trinken. Als wir endlich oben angekommen sind, sind wir beide so hungrig, dass wir bei einer kleinen Hütte eine Pause einlegen, eine Cola bestellen und unser mitgebrachtes Brot mit Avocado essen.
„Wenn’s bergauf geht, geht’s irgendwann auch wieder bergab“, hatte uns ein schlauer Fahrradreisender wissen lassen und recht hat er. Doch leider ist die erste Bergabstrecke nicht weniger Arbeit als der Weg bergauf. Die Straße ist schlecht, wir können nur langsam fahren und müssen nonstop großen Schlaglöchern ausweichen. Vom stetigen Bremsen tun mir bereits meine Schultern weh. Es geht kurz wieder bergauf. Dann aber kommt sie endlich, unsere lang erwartete gute Downhill-Strecke! Der Asphalt ist auf einmal bestens und 20 Minuten lang lassen wir die Räder einfach laufen. Hier gibt es keine Schlaglöcher und wir sind die Einzigen, die diese gute Straße befahren. Dafür hat sich die Quälerei beim Anstieg also doch gelohnt.
Der nächste Tag, unser Tag 12 auf dem Fahrrad, wird der schönste seit langem. In einem stetigen Auf und Ab folgen wir der wenig befahrenen Straße und biegen um eine Kurve, als auf einmal ein riesiger See vor uns auftaucht: Das Buôn Tha Sra Reservoir. Wir fahren einige Minuten am See entlang, bevor wir auf einmal ein auf dem See schwimmendes Haus wahrnehmen. Von einer Brücke aus haben wir einen tollen Blick und halten an. Zu beiden Seiten der Brücke befinden sich etwa fünf schwimmende Häuser. Ein Mann steuert mit seinem Boot ein Haus nach dem anderen an und lädt Kartons aus und andere Güter ein. Wir stehen lange auf der Brücke und beobachten das Treiben unter uns. Nur ungern reißen wir uns schließlich von diesem schönen Platz los, doch die Sonne brennt auf uns hinunter, es ist heiß und wir haben noch rund 30 Kilometer bis zu unserem heutigen Tagesziel vor uns.
Doch auch die kommende Wegstrecke ist abwechslungsreich. Mittlerweile haben Reisfelder die Kaffeeplantagen abgelöst. Wir radeln über eine riesige Ebene, die Reisernte ist in vollem Gange. In den Feldern stehen Menschen zusammen, sie tragen spitze Strohhüte als Schutz vor der Sonne und schneiden den Reis. Einige winken uns zu, wir winken zurück.
Wir erreichen das Dorf Buôn Diêu Môt, hier gefällt es mir besonders gut. Der Reis liegt zum Trocknen auf der Straße, nur noch eine Spur ist befahrbar. Kuhherden trotten über die Straße und kleine Jungen haben die schwere Aufgabe, die Kühe davon abzuhalten, den ausgelegten Reis zu fressen. Die Stimmung im Dorf ist freundlich.
Obwohl unser Tagesziel Liên Sơn gar nicht mehr so weit ist, muss ich aus der Sonne raus. Es ist hier im Hochland zwar nicht mehr so warm wie an der Küste, aber die Sonne ist trotzdem stark. So stoppen wir im nächsten Ort Buon Dieu Mot bei einem kleinen Phơ-Restaurant. Wir staunen nicht schlecht, als eine junge Frau zu uns tritt und uns in bestem Englisch anspricht. Schon lange haben wir niemand mehr außerhalb der Städte getroffen, der Englisch sprechen konnte. Sie erzählt uns, dass dieses Restaurant ihrer Familie gehört. Ihr Mann ist Bauer und erntet gerade mit anderen Männern den Reis, sie kocht für Gäste. Ich schätze sie auf Anfang 30, sie hat drei Kinder. „Where did you learn to speak English?“, fragen wir sie interessiert. Sie erzählt, dass sie Englisch studiert hat. Doch da sie direkt nach Abschluss ihres Studiums heiratete, wurde aus einem Arbeitsplatz in der Stadt nichts mehr, sondern sie zog in das Dorf ihres Mannes und betreibt nun das kleine Restaurant der Familie.
„How old are you?“, fragt sie mich und kann es nicht glauben, als ich ihr “33” anworte. Wie alt sie mich denn geschätzt hat, will ich von ihr wissen und nun kann ich staunen, als sie „20“ sagt. „But you are so young“, schaut sie mich ungläubig an. Das passiert uns nicht zum ersten Mal, immer wieder in Vietnam schätzen uns Leute auf Anfang 20. Doch ob es wirklich an unserem Aussehen liegt oder an der Tatsache, dass wir keine Kinder haben und mit dem Fahrrad durchs Land reisen, das können wir nicht ergründen. Nach einem gemeinsamen Erinnerungsfoto brechen wir auf, es liegen nur noch neun Kilometer bis zu unserem Tagesziel vor uns.
Einen weiteren Tag fahren wir noch Rad und erleben einige Überraschungen: Da wären die Elefanten, die morgens an unserem Frühstücks-Phơ-Restaurant vorbeilaufen, dann der Weg, der sich als Sackgasse erweist, bei dem wir aber einem Mann begegnen, der uns stolz in sein auf Stelzen stehendes Holzhaus einlädt, und das Mittagessen bei einem älteren Paar, das uns herzlich willkommen heißt, uns ein unglaublich vielfältiges vegetarisches Mittagessen serviert und das dazu noch zum absoluten Freundschaftspreis. Wir erreichen unser anvisiertes Etappenziel, die Distrikthauptstadt Buôn Ma Thôut, und finden eine tolle Unterkunft mit gemütlichem Zimmer. Hier werden wir eine Fahrrad-Pause einlegen.
Mit dem Bus nach Kon Tum
Als wir nach drei Nächten Buôn Ma Thôut verlassen, hängen dunkle Wolken über der Straße. Wir schieben die Räder aus der Tiefgarage heraus, zum Radfahren ist so ein Wetter angenehmer als die pralle Sonne.
Wir kommen flott voran. Die Pause hat gut getan. Nach zwei Tagen ohne Fahrradfahren fühle ich mich heute viel fitter. Die Tage in Buôn Ma Thôut haben wir auch für Reparaturen genutzt, denn an Sebastians Fahrrad gab es einiges zu tun: Das Hinterrad wackelte, die Bremsen waren nach nur zwei Fahrtagen schon wieder komplett abgefahren und die Ketten beider Räder waren voller Staub und Schmutz. Den ersten Tag verbrachten wir mit der Reparatur und Instandhaltung unserer Räder, den zweiten nutzen wir für eine kleine Fahrt durchs Zentrum. Uns war vom berühmten Kaffeemuseum der Stadt berichtet worden und wir staunten nicht schlecht, als wir in diesem alte Registrierkassen, Waagen und andere Maschinen mit hauptsächlich deutscher Beschriftung vorfanden.
Mittlerweile hat es zu nieseln begonnen, ein grauer Schleier legt sich über die Straße. Immer wieder donnern riesige Lastwagen dicht an uns vorbei. Meine Laune beginnt zu sinken. Obwohl ich mich heute körperlich ausgeruht fühle, macht mir das Radeln unter diesen Umständen keinen rechten Spaß.
„Komm, lass uns mit einem Bus nach Kon Tum fahren. Nutzen wir die Zeit lieber für die Etappen danach, die sollen sowieso schöner sein.“ Sebastian stimmt zu. Seit wir vor einigen Tagen eine Zusage für einen House Sit in Shenzhen in China bekommen haben, ist unsere Zeit in Vietnam auf einmal begrenzt. Wir stellen uns an die Straße und halten Ausschau nach einem Bus. Beim letzten Mal war es kein Problem, die Räder darin mitzunehmen und auch heute hält schon bald ein Kleinbus neben uns, schnallt ohne viele Worte unsere Fahrräder aufs Dach und lässt uns einsteigen. Drei Stunden später kommen wir in Kon Tum an – mit den Rädern hätten wir zwei Tage für die Strecke benötigt.
In Kon Tum bekommen wir ein Zimmer im sehr zu empfehlenden Vietnam Phuot Homestay, das von einer resoluten älteren Dame geführt wird. Sie entpuppt sich als pensionierte Mathematiklehrerin, die im grundstückseigenen kleinen Klassenzimmer Schüler in den Abendstunden Nachhilfe gibt. Sie lädt uns ein, um 18 Uhr vorbeizukommen, um mit ihren Schülern Englisch zu sprechen. Wir sagen gerne zu.
Doch abends wird klar, dass wir uns nicht nur ein bisschen nett mit den Kindern unterhalten sollen, sondern unserer Gastgeberin wichtig ist, dass wir über das Thema „Tiere“ sprechen. Und bitte auch nicht spielerisch, mit raten, malen und selbst an die Tafel schreiben, sondern lieber im hergebrachten frontalen Unterrichtsstil. Und damit es nicht anders läuft als gedacht, steht unsere Gastgeberin mit ihrem Handy und Google Translate bewaffnet neben uns und gibt uns regelmäßig Anweisungen. Wirklich gewinnbringend finde ich unseren Besuch in der Schulstunde nicht, aber den Schülern scheint es trotzdem eine willkommene Abwechslung gewesen zu sein.
Von Kon Tum nach Hoi An, 309 km, 5 Tage. Die letzte Etappe der Tour und der anstrengendste Tag dieser Reise.
Als wir an unserem Fahrrad-Tag Nummer 19 Kon Tum verlassen, starten wir in die letzte Etappe unserer Radtour durch Vietnam: Parallel zur laotischen Grenze werden wir für die kommenden fünf Tage nach Norden radeln und am Ende in Hoi An ankommen, das Ziel unserer Fahrradtour.
Die ersten Tage auf unserer letzten Etappe führen uns Dinhs Warnung nochmal vor Augen, wir müssten hier alles für die Räder mitbringen, was wir brauchen, denn hier gäbe es nichts. Die Landschaft ist wunderschön, wir fahren durch dichtbewachsene Wälder, Ortschaften sind im Vergleich zu den vorherigen Etappen aber seltener. Die Straßen sind vergleichsweise leer.
Zum ersten Mal seit fast drei Wochen Fahrradfahren bekommen wir keine Mittagsessens-Phơ. Obwohl wir Dörfer passieren, gibt es dort keine Restaurants. Ein Novum. Die Dörfer hier wirken eher arm, ganz anders als ihre Nachbarn etwas weiter im Süden. Gerade heute haben wir fast keinen Proviant dabei. Notgedrungen halten wir am Straßenrand an und essen unsere letzten zwei braun gewordenen Bananen und ein paar Kekse.
Am nächsten Morgen nehmen wir uns vor, dass uns so etwas nicht nochmal passieren soll und decken uns mit Brot, Avocado, Bananen, Keksen und natürlich Wasser für den anstehenden Tag ein. Wir haben heute nur 61 Kilometer vor uns, eine kurze Etappe also. Doch leider warten auch einige Anstiege auf uns.
Der heutige Tag wird für mich als „anstrengenster Tag dieser Reise“ in die Geschichte eingehen. Dagegen war die Besteigung des 5416 Meter hohen Thorung La Passes in Nepal ein Klacks. Direkt hinter unserem heutigen Startpunkt beginnt sich die Straße in die Höhe zu schrauben. Obwohl wir am Vormittag ja eigentlich noch frisch sein sollten, läuft uns beiden bald schon der Schweiß den Rücken hinunter. Ab und an lassen uns ebene Stellen zu neuem Atem kommen, bevor uns der nächste Anstieg wieder herausfordert.
Dann aber kommt DER Berg des heutigen Tages und bald schon wünsche ich, ich hätte drei Gänge mehr an meiner Schaltung, denn selbst der leichteste Gang ist noch zu schwer. Serpentine für Serpentine quälen wir uns im Schneckentempo nach oben. Entgegenkommende Motorrad- und Lastwagenfahrer winken mir zu und zeigen mir den Daumen nach oben. „Wie weit ist es noch?“, möchte ich sie gerne fragen, aber ich kann mich sowieso nicht verständlich machen und habe zudem keine Luft mehr zum Reden.
Immer wieder halten wir an und trinken etwas. Ab und an essen wir eine Kleinigkeit, das Frühstück ist schon längst verbrannt. Der Berg zwingt uns in seinen Rhythmus, zwanzig Meter fahren, dann stoppen und den Atem wieder normalisieren lassen. Und dann weiter. Wie lange kann sich so ein blöder Berg hinziehen?
Mit fast schon einer Schnappatmung halte ich wieder an. So macht diese Fahrradtour keinen Spaß. Warum zur Hölle fahren wir hier durch die Pampa, könnten wir nicht etwas besseres mit unserer Zeit anstellen? Ich spüre Tränen hinter meinen Augen brennen und trinke schnell einen Schluck Wasser. Jetzt nicht auch noch die Fassung verlieren.
Nach über dreieinhalb Stunden in der prallen Sonne stetigen Bergauffahrens versperrt uns eine Baustelle unsere Fahrspur. Mit den letzten Kräften lenke ich mein Fahrrad durch den Schotter und Sand auf der Straße und folge der Rechtskurve. Einige hundert Meter weiter steht Sebastian neben seinem Fahrrad am Straßenrand und wartet auf mich. Die Straße ist auf einmal flach. Haben wir es etwa wirklich geschafft? Sind wir endlich oben angekommen?
Mit wackeligen Beinen setzen wir uns vor eine kleine Bude und öffnen eine Flasche Pepsi. Die haben wir uns jetzt verdient! Ich kann es kaum glauben, dass wir endlich den höchsten Punkt des heutigen Tages erreicht haben und es jetzt bergab gehen soll.
Als wir abends in Khâm Dúc ankommen, sind wir todmüde und mein rechtes Knie schmerzt bei jeder Bewegung. Heute sind wir 1500 Höhenmeter hoch und 1800 Höhenmeter hinunter gefahren. Was für ein Tag! Beim einzigen Hotel des Orts stoppen wir, schleppen uns zu Fuß nach unserem Abendprogramm (duschen und Wäsche waschen) noch raus zum Abendessen und liegen um 20 Uhr bereits im Bett.
Eigentlich bräuchten wir und besonders mein rechtes Knie einen Tag Pause, aber am nächsten Morgen beschließen wir, trotzdem weiterzufahren. Zwei Tagesetappen trennen uns noch von Hoi An, dem Ziel unserer Fahrradreise.
Obwohl wir auf dem Weg raus aus den Bergen und zurück an die Küste ständig an Höhe verlieren, gibt es trotzdem einige Anstiege zu meistern. Seit dem gestrigen schlimmen Bergtag sind meine Beine müde und ausgelaugt und gegen Nachmittag beginnt mein Knie erneut zu schmerzen.
Als wir zwei Tage später endlich das Meer erblicken, sind wir aus dem Häuschen! Meine Güte, ist es hier an der Küste heiß! Es ist bestimmt 10 Grad wärmer als in den Bergen und die Sonne brennt hier noch stärker vom Himmel.
Nachmittags rollen wir hinein nach Hoi An und es ist ein triumphales Gefühl. Natürlich weiß keiner der Menschen, an denen wir vorbeikommen, welchen Weg wir bis hierhin zurückgelegt haben, aber wir wissen es und das ist ja, was zählt. An unserem 23. Tag erreichen wir unser kleines, nettes Countryside Garden Homestay in Hoi An und damit das Ende dieser Fahrradtour.
Die nächsten beiden Tage verbringen wir mit Ausschlafen, lecker essen (endlich mal keine Phơ!) und mit dem Verkauf unserer Fahrräder samt Zubehör. Für mein Rad finden wir eine nette Frau als Käuferin, für Sebastians leider niemanden. So kommen wir auf das Angebot von Thai zurück, von dem wir die Räder in Ho-Chi-Minh-City erstanden hatten und der uns anbot, sie nach unserer Tour zurückzukaufen.
Schneller als gedacht sind wir wieder ohne Fahrräder unterwegs und steigen auf unser liebstes Verkehrsmittel dieser Reise für die Etappe in die Hauptstadt Hanoi um: Den Zug.
Knappe 1000 Kilometer haben wir in 23 Tagen auf unseren zwei Gebrauchträdern von Ho-Chi-Minh-City nach Hoi An zurückgelegt und saßen damit so viel und so lange wie noch nie am Stück im Sattel. Nicht jeder Tag hat Spaß gemacht, doch die Tour als Gesamtes war ein echtes Highlight unserer Reise!
Zu unserer Fahrradtour durch Vietnam sind zwei weitere Artikel erschienen:
Teil 1: Vorbereitungen einer Fahrradreise
Teil 2: Mit dem Fahrrad durch Vietnam – Der Küste entlang
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Vielen Dank für dieses wunderschönen und spannenden Bericht. Mit dem Fahrrad die 1000 km durch Vietnam, da kann man nur den Hut vor ziehen. Freue mich schon auf die nächsten Berichte.
Lieber Kilian,
vielen Dank für deinen Kommentar! Wir freuen uns sehr, dass dir unser Bericht gefällt! Ja, die Tour durch Vietnam war anstrengend, aber auch sehr bereichernd. Immerhin hat sie uns dazu motiviert, uns für den Weg nach Hause nochmal aufs Fahrrad zu schwingen 🙂
Viele Grüße aus Costa Rica
Leo & Sebastian
Hey,
eine tolle Geschichte! Wisst ihr noch wie das Fahrradgeschäft in HCMC hieß, bzw. wo es war? Würde gerne nach einem Rad dort schauen 🙂
Hi Wanda,
das Geschäft heißt bei Google Maps „Mr. Biker Saigon District 1“.
Viel Spaß und viele Grüße aus Deutschland
Sebastian