Tibet… Es stand von Anfang an ganz oben auf meiner Wunschliste für diese Reise, doch je näher wir kommen, desto unwahrscheinlicher kommt es mir vor, diese karge Hochgebirgslandschaft tatsächlich besuchen zu können. Ausländer dürfen Tibet nicht individuell, sondern nur mit einem Guide und Fahrer bereisen. Das macht ein solches Vorhaben teuer. Zudem: Ist es moralisch überhaupt vertretbar, nach Tibet zu reisen? Unterstützen wir damit das unterdrückende Vorgehen der chinesischen Regierung und geben ihr mit unserem Besuch quasi eine Bestätigung, an ihrem Umgang mit den Tibetern festzuhalten? Oder ist es im Gegensatz besser, uns vor Ort selbst ein Bild zu machen und den Tibetern zu zeigen, dass sie nicht vergessen werden?
Gedanken wie diese schlummern in mir, als wir in einem Geländewagen über die aufgeweichte Straße Richtung nepalesisch – tibetischer Grenze fahren.
Angekommen in Tibet
„Welcome to my country, welcome to Tibet!“, begrüßt uns ein freudestrahlender Nima. Wir haben die Einreise nach Tibet geschafft! Und wir sind sogar noch im Besitz meines Schweizer Taschenmessers, einzig unsere Äpfel und Bananen bleiben bei den Grenzbeamten. Doch das können wir verkraften. Eine tagesfüllende holprige Anreise von Kathmandu an die Behelfsgrenze Rasuwa Gadhi – Kerung liegt hinter uns, denn die offizielle Grenze zwischen Nepal und Tibet auf dem Friendship Highway ist seit dem starken Erdbeben von 2015 wegen zu schwerwiegender Schäden gesperrt und es steht in den Sternen, ob sie jemals wieder geöffnet wird.
Während wir uns auf nepalesischer Seite über aufgeweichte Matschstraßen quälten und mit kaum mehr als 25 Stundenkilometern unterwegs waren, sieht es nun auf tibetischer Seite anders aus. Ähnlich dem protzigen Gebäude auf dem Khunjerab-Pass zwischen Xinjiang in China und Pakistan, steht auch hier ein riesiges Betongebäude, dass die Stärke des großen Chinas im Vergleich zum kleinen Nachbarn Nepal symbolisiert. Perfekte Teerstraßen ziehen sich schlaglochfrei durch die gewaltigen Bergtäler und schon kurze Zeit später kommen wir in unserer ersten Station Kerung an.
Hier werden wir für eine Nacht stoppen. Es ist auch die erste Gelegenheit, mit unseren Mitreisenden näher ins Gespräch zu kommen. Zu zweit mit einem Guide durch Tibet zu reisen wäre zwar toll gewesen, war uns aber zu teuer. So haben wir uns einer Gruppe angeschlossen und sind nun mit acht anderen Reisenden unterwegs: Elli aus Belgien ist mit Ende zwanzig die Jüngste der Gruppe, US-Amerikaner John wird als Ältester mit stolzen 82 Jahren den Weg über die hohen Pässe Tibets antreten. Der Rest der Gruppe ist eine bunte Mischung aus Nationalitäten und Altersgruppen. Alle sind reiseinteressiert, lustig und nett und schnell gibt es gemeinsame Gesprächsthemen. Doch viel Zeit für einen ersten Austausch ist nicht, denn erst mal steht Geld wechseln an und danach das Abendessen.
Da die Banken bereits geschlossen haben, empfiehlt uns Nima, Bargeld auf dem Schwarzmarkt zu tauschen, die Wechselkurse wären nicht schlechter als bei der Bank. Nur – wo finden wir den Schwarzmarkt? In Kerung ist das leicht, denn der Schwarzmarkt kommt in Gestalt zweier tibetischer Frauen mit großen Taschen direkt in unser Hotel. Verhandelt wird nicht, nach Friss-oder-Stirb-Prinzip können nepalesische Rupien, US-Dollar und Euro gegen chinesische Yuan getauscht werden – oder eben nicht.
Sebastian und ich haben keine nepalesischen Rupien mehr und finden im Ort einen Geldautomaten, in dem wir auf ganz herkömmliche Art mit unserer Kreditkarte Geld abheben. So steht unserem Abendessen an diesem ersten Abend in Tibet nun nichts mehr im Wege und gemeinsam mit den Anderen machen wir uns auf die Suche nach einem Restaurant.
Über höchste Pässe
Früh beginnt der nächste Tag für uns und obwohl wir für tibetische Verhältnisse auf „nur“ 2.800 Metern geschlafen haben, ist es kalt. Nebel wabert über die Straße, die sich durch die Berge windet. Bald schon taucht ein erster Militärcheck vor uns auf und unser Fahrer Tsendup stoppt. Hier werden nur sein Führerschein und die Fahrzeugpapiere geprüft, wir Touristen sind uninteressant. Während wir warten, öffnen wir die Türe unseres Kleinbusses und legen einen ersten ungeplanten Fotostopp ein, der die Soldaten merklich aus der Fassung bringt.
Nima scheucht uns lachend zurück ins Auto. „Have you seen their faces?“, lacht er. Mit Nima haben wir einen Glückstreffer gelandet. Er ist Tibeter und es scheint seine Mission zu sein, uns einen echten Eindruck des Lebens vor Ort zu geben. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob ich ihm wirklich alle Fragen stellen kann, die ich habe? Ich darf, allerdings mit Einschränkungen. „You see this camera at our front window? You see this one here, checking our driver Tsendup? And you see this one, checking you, the passengers?“ Drei Kameras und ein Mikrophon überwachen, was in unserem Kleinbus passiert. Erinnerungen an unseren Monat in Xinjiang werden wach. Willkommen zurück in China, hier wird nichts dem Zufall überlassen… Und in Tibet wahrscheinlich noch weniger als in anderen Regionen des Landes.
Während wir durch die beeindruckende Berglandschaft fahren und uns stetig höher schrauben, bekommen wir einen ersten Eindruck, wie die Tibeter momentan in ihrem besetzten Land leben. Nima hat seinen Platz ganz vorne mit John getauscht und sitzt nun in der letzten Reihe. Leise erzählt er, dass Tibeter keinen Reisepass bekommen. Einen legalen Weg, das Land zu verlassen, gibt es daher nicht. Trotzdem war er in Nepal und auch in Indien beim Dalai Lama. Das geistliche Oberhaupt der Tibeter lebt seit seiner Flucht aus Tibet 1959 in Dharamsala in den Bergen Nordindiens im Exil und ist die Hauptanlaufstelle für viele geflohene Tibeter. „How could you leave the country without a passport?“, fragen wir ihn. Nima berichtet von den hohen Bergen des Himalaya, von schmalen Pfaden und von der kaum zu kontrollierenden Grenze zwischen Tibet und Nepal. Für einige Zeit lebte er in Indien, doch als einziger Sohn wollte er irgendwann wieder zurück nach Hause kommen.
Beim Rückweg hatte er nicht so viel Glück und wurde von chinesischen Soldaten festgenommen. Drei Tage lang saß er im Gefängnis und hat es trotzdem gut erwischt. „Other people stay years in prison, but I was locked up for only some days.“ Von Touristen, denen er sein Land zeigte, bekam er Einladungen nach Europa, doch er kann sie nicht annehmen, wenn er nochmal zurück nach Tibet kommen möchte. Mittlerweile ist er zudem verheiratet und seine Frau möchte in Tibet bleiben. „It’s still our home, even though it changed a lot.“
Tsendup hupt kurz und fährt rechts raus auf den Parkplatz. Wir haben an unserem ersten richtigen Tag in Tibet bereits den höchsten Pass der Tour erreicht und stehen unakklimatisiert auf dem 5.236 Meter hohen Ma La Pass. Die Luft ist dünn und mir fällt das Atmen schwer. Ich habe leichte Kopfschmerzen, merke sonst aber zum Glück nicht besonders viel von der Höhe. Ich kann nur mit dem Kopf schütteln, wenn ich an unsere Trekkingtour in Nepal zurückdenke: „Ab einer Höhe von 3.000 Metern solltet ihr nur maximal 300 Meter Höhendifferenz von einer Übernachtung zur nächsten haben“, wurde uns dort eingeschärft. Hier in Tibet scheint das niemanden zu interessieren. Natürlich schlafen wir nicht auf 5.236 Meter Höhe, doch liegt unser Tagesziel heute trotzdem auf 4.318 Metern.
Höhenkrank
Für John, unseren Ältesten, ist der schnelle Höhenanstieg zu viel. Er sieht schon seit dem Mittag furchtbar aus und gibt auf Nimas Rückfrage zu, dass er höllische Kopfschmerzen hat. Als er sich am Straßenrand übergeben muss, läuten alle meine Alarmglocken. Mit Höhenkrankheit ist nicht zu spaßen und sich zu übergeben ist ein ernstes Zeichen. Doch wir sind in Tibet und damit auf einer Hochebene. Absteigen und die Höhe verringern, wie das in Nepal so einfach machbar war, geht hier kaum. So versucht Nima, John zu beruhigen und spielt wahrscheinlich auf Zeit.
Da Elli den Abstecher zum Everest Basecamp gebucht hat und sich einige Andere ihr anschließen, dürfen wir diese zweite Nacht in Tibet und die erste auf über 4.000 Metern Höhe mit einem sichtlich geschlauchten John alleine im Dorf Tingri verbringen. Nima und Tsendup werden am Fuße des Everests mit dem anderen Teil der Gruppe schlafen. „What shall we do if John is feeling worse?“, frage ich Nima besorgt. Er treibt eine Flasche Sauerstoff für John auf, was mich wenigstens etwas beruhigt. Zudem gibt es im Hotel noch weitere Flaschen als Nachschub.
Und schwups ist unsere Gruppe auf dem Weg zum Everest Basecamp, während Sebastian und ich mit Adriano, Mitchell und dem höhenkranken John in Tingri zurückbleiben. Alle von uns fünfen spüren entweder die Höhe oder wollen sich nicht unnötigen Belastungen aussetzen: Unakklimatisiert auf über 5.000 Metern am Fuße des Everests zu schlafen und für diesen Extratrip auch noch 100 US-Dollar pro Person zu bezahlen, hört sich für uns nicht gerade attraktiv an. Für die Anderen schon.
John übersteht die Nacht zum Glück, hat aber kaum geschlafen. Auch Adriano, Mitchell und Sebastian klagen am Morgen über Atemnot, Schwindel, Durchfall und/oder Übelkeit. Nur ich habe bestens geschlafen und kann es selbst kaum glauben.
Karge Weiten
Der kommende Morgen begrüßt uns mit strahlend blauem Himmel und einem eiskalten Wind. Nachdem uns die Everest-Übernachter eingesammelt haben und wir wieder alle versammelt in unserem Kleinbus sitzen, startet Tsendup den Motor. Heute sehen wir, wie auch gestern schon, den Mount Everest. Mächtig erhebt sich der höchste Berg der Erde neben seinen Nachbarn und wir haben Glück, denn er ist wolkenfrei.
Wir passieren die Ortschaft Lhatse, die mir vom Hörensagen bekannt ist. „Don’t we stop here?“, frage ich Nima hektisch. „It was a beautiful town. Once. Now it’s a Chinese town and there is nothing to see anymore.” Wie wohl Lhasa sein wird? Obwohl ich bislang wenige Fotos der Stadt gesehen habe, habe ich trotzdem ein Bild vor meinem inneren Auge. Doch weiß ich von anderen Reisenden, die Lhasa als wahnsinnig chinesisch empfunden haben. Ob von der alten Stadt noch irgendetwas übrig ist? Bis wir in Lhasa ankommen, haben wir noch ein paar Tage vor uns und so blicke ich wieder hinaus aus dem Fenster. Ich liebe diese kargen Weiten, auf denen nichts zu wachsen scheint, in denen ab und an eine Herde Yaks steht und immer mal wieder tibetische Gebetsfahnen im Wind flattern.
Gegen Nachmittag kommen wir in Shigatse an und sind nun auf 3.839 Metern. Ich bin immer noch kurzatmig, sonst geht es mir aber ganz gut. Sebastian kämpft mit Durchfall, Adriano und die meisten anderen der Gruppe mit teils immer noch starken Kopfschmerzen. John sieht immer noch schlecht aus, kann aber mittlerweile wieder etwas essen. „Why did you choose to travel from Kathmandu to Lhasa and not the other way around?“, will ich von unseren Mitreisenden wissen. Für uns gab es diese Option nicht, denn ohne Flugzeug wären wir nicht nach Lhasa gekommen. Doch wurde uns vorab von mehreren Reisebüros empfohlen, lieber andersrum, also von Lhasa nach Kathmandu zu reisen. Denn dann hat man mehr Zeit, sich an die hohen Pässe zu gewöhnen und kann die Tour in der Regel mehr genießen. Keiner unserer Mitreisenden scheint sich darüber besondere Gedanken gemacht zu haben. Nachvollziehen kann ich es nicht, da sie bis auf eine Ausnahme sowieso ab Lhasa zurück nach Kathmandu fliegen werden.
Gemeinsam mit Elli und Adriano schlendern wir abends durch Shigatse und finden den Markt. Es ist immer noch taghell, obwohl es bereits 20 Uhr ist. Die in China geltende Peking-Zeit macht hier in Tibet genauso wenig Sinn wie in Xinjiang und so haben sich die Leute auch hier für eine inoffizielle eigene Zeitzone entschieden, was Verabredungen allerdings etwas kompliziert macht. Wann treffen wir uns? Peking-Zeit oder Lhasa-Zeit?
Zeit für Kultur
An Tag 4 unserer Tibetreise ist nun endlich nach langen Stunden des Autofahrens Zeit für etwas Kultur gekommen: Heute werden wir das berühmte Tashilunpo-Kloster in Shigatse besichtigen. Früher lebten hier bis zu 7000 Mönche, heute sind es immer noch um die 900. Das Kloster ist so groß, dass es uns an eine eigene kleine Stadt erinnert und was mich besonders freut: Es wirkt wie ein ganz normaler Ort des täglichen Lebens. Wir sehen viele Tibeter, die beten oder sich mit Freunden unterhalten. Es herrscht eine angenehme, positive Atmosphäre und obwohl überall Kameras angebracht sind, sehen wir kaum Polizei, Militär und auch generell sehr wenige Han-Chinesen. Leider dürfen in den diversen Gebetsräumen und Tempeln keine Fotos gemacht werden, aber der bestimmt zwanzig Meter hohe goldene Buddha, der in einem der Tempel vor uns auftaucht, lässt uns den Atem anhalten.
Das Kloster Tashilunpo ist der Sitz des Penchen Lamas, der nach dem Dalai Lama der zweitwichtigste Lama ist. So sehen wir in Tashilunpo überall Bilder der letzten drei Penchen Lamas hängen. „You see here the picture of Penchen Lama number 11.“ Nima senkt die Stimme. “We call him the fake one, as Chinese government said, that he will be the new Penchen Lama. Dalai Lama is not accepting him. And this here is number ten. He was a real Penchen Lama. We call him the fat one.” Immer noch muss ich lachen, wenn in vielen Regionen Asiens so unverhohlen auf den Körperumfang einer Person hingewiesen wird und das dabei nicht negativ gemeint ist, im Gegenteil. “The fat one” ist eher ein Ausspruch von Anerkennung und Respekt.
„Tibetans will be very friendly to you foreigners. We know that you like Tibet. And we know that many foreigners try to help Tibetan people. But we don’t like Chinese tourists. Local people will not talk to Chinese tourists, but they will smile at you.” Im Gegensatz zu uns ausländischen Touristen dürfen sich chinesische Urlauber frei in Tibet bewegen. Wobei wir nur wenigen individuell reisenden Chinesen begegnen. Die meisten sind in großen lauten Gruppen unterwegs und wir versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen.
Ein letzter Tag durchs Hochland
Früh am nächsten Morgen beginnt unser letzter richtiger Reisetag, denn heute Abend werden wir Lhasa erreichen. Obwohl es erst halb neun ist, brennt die Sonne bereits vom wolkenlosen Himmel. Es wartet ein Fahrtag durch eine wunderschöne Landschaft auf uns. Den ersten Stopp legen wir am überraschend großen Manla Reservoir ein. Es ist eines der größten Wasserprojekte der chinesischen Regierung im Hochland von Tibet mit dem Ziel, die Selbstversorgung in der Region zu fördern. Wir dürfen nicht an der Staumauer stoppen, sondern am dafür eingerichteten Besucherspot. Die Ausblicke sind trotzdem fantastisch!
Im Verlauf des Tages halten wir an einem Gletscher, passieren unseren letzten Straßenpass über 5.000 Meter Höhe und schauen uns für kurze Zeit die Touristenattraktionen an, die speziell für chinesisches Publikum entstanden sind: Auf kleinem Gelände drängen sich Yaks und riesige Tibetan Mastiffs, die wohl größten Hunde, die ich jemals gesehen habe. Letztere sind an massiven Eisenstangen angeleint und stehen unfreiwillig als Fotopartner zur Verfügung. Der Wunsch der chinesischen Touristen, wenigstens für ein Foto in die traditionelle tibetische Kleidung zu schlüpfen und kurz auf einem Yak zu sitzen, scheint groß zu sein, denn es ist mächtig etwas los. Wir verlassen das Gelände etwas überstürzt nach einem kurzen Rundgang.
Je näher wir Lhasa kommen, desto voller wird der Friendship Highway. Sind wir die letzten Tage durch menschenleere Gegenden gefahren und hatten kaum Verkehr auf der Straße, schlängelt sich nun eine Reihe voller Reisebusse die Serpentinen vor uns entlang. Tagestouristen aus Lhasa, wie Nima uns erklärt.
Und dann tauchen kurz vor Lhasa die ersten niedrigen Bäume neben der Straße auf. Auf einmal wachsen wieder Blumen und die Kirschbäume blühen. Nach den Tagen im kargen tibetischen Hochland fällt uns die Farbenpracht jetzt ganz besonders ins Auge. So schön die Blumen und Bäume sind, werde ich trotzdem traurig. Jetzt liegt nur noch Lhasa vor uns und unsere Zeit in Tibet nähert sich in großen Schritten bereits dem Ende.
Wie wir unsere Tage in Lhasa erleben, liest du im zweiten Teil: „9 Tage in Tibet – Leuchtendes Lhasa“
Für die Wahrung ihrer Privatsphäre haben wir die Namen unserer tibetischen Begleiter und Mitreisenden geändert.
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