Couchsurfing bei Hailey und Narayan
Es ist Mitte Oktober. Von gestern auf heute ist es herbstlich geworden. Als wir morgens in Shanghai aus dem Nachtzug steigen, ist die Luft zum ersten Mal seit über einem halben Jahr kühl. Übermüdet greife ich zu meiner Fleecejacke. Dass die nochmal zum Einsatz kommt, wer hätte das gedacht…
Mit der Metro fahren wir zur uns von Hailey, unserer Couchsurfing-Gastgeberin, genannten Haltestelle und suchen den Ausgang Nummer 28, denn der liegt am nächsten an unserem neuen Wohnort. Diese Haltestelle hat 35 Ausgänge, lesen wir. 35! Und es ist nicht mal eine der besonders großen Metro-Stationen Shanghais.
Dank Haileys Wegbeschreibung und unserer Offline-Karte finden wir problemlos zu einem Wohngebiet, in dem alle Häuser gleich aussehen. Alle haben sechs Stockwerke und sind in einem matten Ockerton gestrichen. Von allen Häusern stehen orthogonal etwa eineinhalb Meter lange Stangen weg, an denen Wäsche zum Trocknen im Wind flattert. Wir finden das Haus Nummer vier und machen uns den Weg hoch in den sechsten Stock. Einen Aufzug gibt es, wie wir von Hailey schon gewarnt wurden, nicht.
Oben angekommen können wir keine der Türen Hailey zuordnen, also schicken wir ihr eine kurze Nachricht über WeChat. „My door is open. But I can’t see you. Where are you?“, lesen wir kurz darauf. Sind wir nicht in Haus Nummer vier? Eine Frau schnauft die Treppenstufen hinauf und schaut uns fragend an. Zu wem wir hier wohl wollen? Ich zeige ihr mein Handy mit Haileys Adresse auf Chinesisch und sie schüttelt den Kopf. „No, no“, ist allerdings das einzige, was wir verstehen können. Sie winkt uns, ihr zu folgen. Also stapfen wir die sechs Stockwerke mit allem Gepäck wieder hinunter, laufen ein Weilchen mit unserer Helferin durch die alle gleich aussehenden Häuserreihen und stehen wieder vor einem Haus Nummer vier.
Herzlich bedanken wir uns bei der Frau und zücken unser Handy, denn Hailey hat in der Zwischenzeit ein Foto von ihrem Hauseingang geschickt. Er sieht für uns auf den ersten Blick exakt gleich aus wie der Eingang, vor dem wir eben schon standen, doch wenn man genau schaut, ist eines der sechs chinesischen Schriftzeichen anders. Diese hatten wir nicht beachtet, sondern uns von der Nummer 4 (in die Irre) leiten lassen.
Zu Besuch bei zwei Ökos
Oben angekommen öffnen uns Hailey und ihr Freund Narayan strahlend die Türe – wir sind da! Drei Tage werden wir bei den beiden wohnen und bekommen ein tolles Zimmer ganz für uns alleine. Nach unserer Zeit in Hongkong, in der wir in einem winzigen Acht-Quadratmeter-Zimmer unterkamen und der vergangenen Nacht im beengten Schlafwagen ist dieses Zimmer der pure Luxus.
„Take a rest, take a shower if you want, we will cook for you.” Hailey und Narayan sind toll, wir mögen sie auf Anhieb. Eine schnelle Dusche später steht bereits das Mittagessen auf dem Tisch, lauter kleine Schalen gefüllt mit geriebener Karotte, geriebener Gurke, Sojasauce, einer Pilzsauce, Kohl mit Cherrytomaten, einer Art Bechamelsauce und einer großen Portion Spaghetti für jeden. Hailey erzählt, dass sie seit neun Jahren Vegetarierin ist, seit drei Jahren Veganerin und seit einem Jahr nun wirklich auf ihre Ernährung achtet. „Before, I was vegan but went every week to McDonalds to eat some French fries“, lacht sie. Das wäre natürlich Unsinn, sich gesund vegan ernähren zu wollen und dann aber ständig fettige Pommes zu essen. Sie und Narayan essen nur noch pflanzliche Nahrungsmittel, ihr Obst und Gemüse beziehen sie von einem Biobauernhof außerhalb von Shanghai, der ihnen das Essen nach Hause liefert. Die Bechamelsauce ist damit keine Bechamelsauce, sondern auf Erdnussbasis. Die Nudeln sind aus Grieß. Alles schmeckt lecker, frisch, sättigend, aber nicht zu füllend. Genau das richtige, was wir nach der langen Anreise brauchten. „Ihr seid ja richtige Ökos!“, muss ich staunen und erkläre den deutschen Ausdruck Öko. Sie lachen. Doch, stimmt schon, irgendwie sind sie Ökos. Die ersten, die uns in China begegnen.
Im Zentrum Shanghais
Abends machen Sebastian und ich uns auf den Weg zu einer ersten Erkundung Shanghais. Mit der Metro fahren wir in die Innenstadt. Es ist eine Szene aus dem abendlichen Leben in China, die wir schon häufig gesehen haben und die uns immer wieder freut: Auf einem großen Platz tanzen Paare bei lauter Musik, gleich nebenan wird bei ebenfalls lauter Musik Aerobic gemacht und noch weiter hinten scheint die Bühne für die Gesangstalente zu sein. Überall sehen wir Menschen, die sich entweder bewegen oder den anderen dabei zuschauen. Die Musik ist teilweise schreiend und jede Musikbox kämpft so laut es geht gegen die anderen an, doch die Atmosphäre ist entspannt und gelöst. Wir schauen dem Treiben ein wenig zu und gehen dann weiter.
Kurze Zeit später stoßen wir auf die „Altstadt von Shanghai“ wie sie uns angepriesen wird. Doch wir können uns nicht helfen: Wirklich alt sieht hier nichts aus. Alle Häuser strahlen neu renoviert, alle sehen gleich aus und in allen befinden sich Geschäfte. Die Botschaft ist eindeutig: „Kauft ein!“. Zum Glück gehen wir schon lange nicht mehr shoppen und können entspannt an den vielen Geschäften vorbeilaufen, ohne in Versuchung zu geraten. Bald schon wenden wir der Altstadt den Rücken zu.
Shanghais wohl berühmteste Attraktion The Bund ist in Laufentfernung von uns und wir wollen einen Blick auf die Skyline erhaschen. Es ist der Ort, der uns in Shanghai mit am besten gefallen wird. Neben dem Huangpu-Fluss kann man auf der gut ausgebauten, ewig langen Promenade am Fluss entlang laufen und wir genießen den Blick auf das nächtliche Shanghai, die beeindruckende Skyline des Finanzzentrums auf der anderen Flussseite, den Trubel auf der Promenade und die auf dem Fluss entlang schippernden unbeleuchteten Schiffe.
Lange gehen wir auf der Promenade spazieren, bis es uns schließlich zu kalt wird. Ich trage mittlerweile zwei Jacken und friere dennoch. Nach über einem halben Jahr in den Tropen fühlen sich 17 Grad wie im Winter an und meine Hände sind eiskalt.
Manchmal läuft es anders als gedacht
Unsere nächsten beiden Tage in Shanghai stehen ganz im Zeichen der Reiseplanung. Denn von hier aus möchten wir mit der zweitägigen Fähre nach Japan übersetzen und machen uns auf den Weg, das Ticket zu kaufen. Als wir endlich in einer Landschaft von Baustellen und Hochhaustürmen die richtige Adresse gefunden haben, sind die Türen beider Fährgesellschaften bereits geschlossen. Doch das hilfsbereite Reinigungspersonal klopft für uns einen älteren Herren aus seinem Büro und in gebrochenem Englisch macht er uns klar, dass seine Fähre nach Japan momentan nicht fährt, da sie kaputt ist.
Keine Fähre nach Japan? Wir hatten nicht mal daran gedacht, dass die im Internet beschriebene Verbindung nicht mehr befahren werden könnte. Und nun? Entweder wir warten eine Woche und fahren bei der zweiten Fährgesellschaft mit, sofern es noch Tickets gibt, oder wir lassen uns etwas Neues einfallen. Wir grübeln hin und her: Mehr Zeit in China, das würde heißen, wir könnten endlich einen Ausflug aufs Land machen. Aber wir haben nur noch etwas mehr als einen Monat überhaupt in Asien und Japan und Südkorea interessieren uns sehr…
Schließlich schmeißen wir alle Reisepläne um. Statt nach Japan werden wir an Chinas Ostküste hoch bis nach Qingdao fahren, von wo aus in einem Monat auch unser Containerschiff nach Mexiko ablegen wird. Von Qingdao aus gibt es regelmäßige Fährverbindungen nach Südkorea und dieses Mal wollen wir es nicht dem Zufall überlassen und rufen die Fährgesellschaft vorab an. Doch, das Schiff wird fahren und ja, wir dürfen für Freitag zwei Tickets reservieren. Damit steht der neue Plan und wir können unsere restliche Zeit in Shanghai genießen.
Ein Geburtstag in Shanghai
Am Sonntag, unserem letzten Tag in Shanghai und meinem Geburtstag, ist schlechtes Wetter. Der Himmel ist grau und verhangen. Nix von einem strahlendem Herbsttag, wie ich ihn mir für meinen Geburtstag erhofft hatte. Mit Hailey und Narayan frühstücken wir lecker und ziehen dann los in die Stadt. Bevor gefeiert werden kann, müssen noch die Zugtickets nach Qingdao gekauft werden. Doch danach sind wir frei von Verpflichtungen und treffen unsere Couchsurfing-Gastgeber. Gemeinsam besuchen wir das Künstlerviertel Tianzifang. Es ist schön hier und solch kleine Gassen und niedrige Häuschen hätte ich in Shanghai nicht erwartet. Doch auch hier dreht sich alles nur um Konsum und da wir nichts kaufen wollen, sind wir recht bald schon wieder durch das kleine Viertel durchgelaufen.
Gemeinsam gehen wir Abendessen. Hailey und Narayan bestellen und bald schon stehen Lotuswurz, Süßkartoffelbällchen mit Honigglasur, vier Mondkuchen, eine Nudel-Gemüsesuppe, gefüllte Teigtaschen und allerhand anderer Leckereien vor uns auf dem Tisch. Der Abend mit den beiden ist ein schöner Ausklang meines Geburtstags und unserer Zeit in Shanghai.
Was uns von dieser Metropole bleibt? Wir hätten viel mehr Zeit gebraucht, sie noch besser zu erkunden! Die Hochhäuser sind beeindruckend, aber im Vergleich zu Hongkong, das wir genau vorher besucht haben, fehlt Shanghai das gewisse Etwas. Alles ist sauber, neu, groß, leuchtend und schön, doch für uns unterscheidet es sich wenig zu den anderen chinesischen Riesenstädten, die wir bislang sehen durften. Einzig das Wohnviertel von Hailey und Narayan erinnert uns noch etwas an ein China vor den Riesenbauten, hier sind die Häuser klein und schon älter, die Menschen sitzen zusammen, spielen Karten oder essen gemeinsam. Aber wer weiß, wie viele solcher netten, kleinen, „normalen“ Viertel in Shanghai existieren? In vier Tagen haben wir nur einen oberflächlichen Eindruck von dieser Riesenstadt gewinnen können und der war positiv, wenn auch nicht umwerfend.
Mein Geburtstag war Dank des netten Abendessens sehr schön. Vor einem Jahr waren wir in Shimshal, einem Dorf in den Bergen Pakistans, heute haben wir in Shanghai gefeiert. Wo wir wohl nächstes Jahr sein werden? Ob noch auf Reisen oder wieder zu Hause?
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