Ein Kennenlernen mit Zukunft
Etwas traurig stehen wir an der Reling und schauen auf das türkisblaue Wasser unter uns. Heute wäre ein perfekter Tag zum Segeln gewesen; es gibt Wind, aber nicht zu viel und das Meer ist ruhig. Doch leider haben wir es nicht geschafft, einen Skipper zu finden, der uns von der Baja California rüber ans mexikanische Festland mitnimmt. Schlussendlich haben wir doch ein Ticket für die Fähre von La Paz nach Topolobampo gebucht und schauen vom Passagierdeck aus den Lastwagen zu, die langsam in den Schiffsbauch hineinfahren.
Am Ende soll sich zeigen, dass es genau richtig war, heute mit dieser Fähre zu fahren. Während der fast sieben Stunden dauernden Fahrt lernen wir Clara und Jorge aus San Luis Potosí kennen sowie Kristina, Thomas und Tochter Matea, die aktuell in Aguascalientes wohnen. Angeregt unterhalten wir uns mit ihnen und die Stunden der Überfahrt gehen schnell vorbei. Bis auf Jorge sind wir die einzigen Ausländer an Bord und wir alle kommen aus Deutschland. Was für ein Zufall!
Während Clara und Jorge uns über ihr Studentenleben in San Luis berichten, wo Clara an der Uni ihren deutsch-mexikanischen Master studiert und Jorge arbeitet, berichten Kristina und Thomas vom Expatleben in Aguas. Denn Thomas „schafft“ dort beim Daimler. Schon lange haben wir niemand mehr so schwäbisch reden hören wie die beiden. Als wir dann feststellen, dass Tochter Matea im Herrenberger Krankenhaus geboren wurde, die Kleinstadt, in der Sebastian und ich aufgewachsen sind, ist klar: Wir müssen uns nochmal wiedertreffen.
An diesem sonnigen Fährtag ahnen wir noch nicht, dass wir Kristina, Thomas und Matea in ihrem Haus in Aguas besuchen kommen werden und auch bei Clara und Jorge auf dem Weg nach Mexiko-Stadt stoppen. Etwa neun Monate nach unserem Kennenlernen auf der Fähre von La Paz ans Festland wird Jorge eine Stelle als Freiwilliger in der Nähe von Augsburg antreten und bei Freunden von uns wohnen. Und Kristina, Thomas und Matea werden wir über Weihnachten in ihrem deutschen Zuhause dann zum dritten Mal treffen.
Los Mochis – Vom Botanischen Garten und dem Chepe
Wir alle sind heute aus dem gleichen Grund auf der Fähre ans Festland: Der Ferrocarril Chihuahua al Pacífico, genannt Chepe, hat uns angelockt, die einzige heute noch betriebene Personenzugverbindung Mexikos. Die Zugfahrt gilt als eines der Highlights Nordmexikos, denn sie führt von Los Mochis auf Meeresniveau bis hoch auf 2.420 Höhenmeter und passiert auf dieser Strecke einen der beeindruckendsten und größten Canyons der Welt, die Barranca del Cobre, die Kupferschlucht. Während Sebastian und ich allerdings noch bis Freitag in Los Mochis bleiben und erst dann mit dem Zug losfahren, setzen sich die anderen bereits morgen früh in den Zug.
Drei Tage bleiben wir in der kleinen Stadt Los Mochis. Von Arely, die wir in unserer 40-Stunden-Busfahrt nach Ankunft unseres Containerschiffs von Manzanillo nach Tijuana kennengelernt haben, bekamen wir viele Tipps, denn ihre Eltern leben in Los Mochis und sie ist hier aufgewachsen. Wir besuchen den Parque Sinaloa, den Botanischen Garten. Lange saßen wir schon nicht mehr einfach so in der Sonne auf einer Wiese, denn zumindest in den letzten zwei Monaten auf der Baja California wuchs einfach überhaupt kein Gras.
Es kostet uns einen ganzen Tag, das Ticketsystem des Chepe zu verstehen. Es gibt zwei unterschiedliche Züge zu sehr unterschiedlichen Preisen und innerhalb der Züge nochmal unterschiedliche Preiskategorien. Die Züge fahren jeweils dreimal pro Woche, aber nie am selben Tag. Nach langen Recherchen im Internet und einem Besuch am Bahnhof haben wir das System endlich durchschaut und entscheiden uns für die Kategorie Regional Económica, die günstigste. Der Blick aus dem Fenster ist bei jeder Kategorie sowieso derselbe.
Stopp 1: El Fuerte, das Kolonialstädtchen
Aus Kostengründen legen wir die eigentlich erste Strecke des Chepe mit dem Bus statt dem Zug zurück und sparen uns so einiges an Geld. Und sind zudem flexibler und schneller, denn Busse fahren rund um die Uhr, der Chepe aber nur einmal und das um 6 Uhr morgens. Zu früh für unseren Geschmack.
Um die Mittagszeit kommen wir in El Fuerte an und schon der Weg zu unserem Hostel zeigt uns, dass der Ort wirklich so hübsch ist, wie Arely uns versprochen hat. Das Städtchen ist ein pueblo mágico, ein „magisches Dorf“, eine Bezeichnung des Sekretariats für Tourismus in Mexiko für besonders sehenswerte Orte. Bei traumhaftem Wetter schauen wir uns nachmittags das Zentrum El Fuertes an, besuchen das Hotel Hidalgo, in dem der historische Zorro aufgewachsen sein soll, laufen hoch zur alten Burg, in der sich heute das Museum befindet und essen auf der Plaza ein Eis.
Als wir abends in unser Hostel Hacienda Santa Cruz Del Fuerte zurückkommen, sind wir uns einig, dass dieser Tag wirklich schön war. Nach dem Abendessen sitzen wir noch ein Weilchen im hübschen Innenhof und fallen bald darauf müde ins Bett. Zum ersten Mal seit Langem werden wir nachts von lauten Gästen aus dem Schlaf gerissen, die sich unüberhörbar im Innenhof vor unserem Fenster unterhalten und uns an chinesische Reisende erinnern, die ohne Rücksicht auf andere gerne auch morgens um 4 Uhr mit einem Höllenlärm aus dem Hostel ausgecheckt haben. Als noch der Gitarrenspieler hinzukommt und die ersten Lieder angestimmt werden, drücke ich mir entnervt das Kissen auf den Kopf, doch auch das kann den Lärm nicht ausblenden.
Mit dem Chepe nach Bahuichivo
Um 8 Uhr stehen wir am Bahnhof. Mitten im Nirgendwo verlaufen die Bahngleise in Richtung Berge und außer uns sind noch etwa vierzig andere Menschen am Bahnsteig. Pünktlich kommt der Chepe angefahren, zwei Lokomotiven ziehen die lange Schlange vieler Wagons hinter sich her. Die mit Abstand meisten Wartenden steigen in die beste Zugklasse ein, wir mit einigen anderen in die Wagons der günstigsten Kategorie. Wir hatten uns schon gefragt, ob wir unsere Entscheidung bereuen werden, aber werden angenehm überrascht. Auch die günstigste Kategorie Regional Económica ist absolut ausreichend für eine fünfstündige Zugfahrt und es ist angenehm wenig los. Unser Ticket kaufen wir direkt beim Schaffner, der zu unserem Platz kommt.
Mit einem Pfiff setzt sich der lange Zug in Bewegung. Los geht die Fahrt in die Berge. Zufrieden lassen wir uns auf die Sitzbank fallen, Zugfahren ist einfach toll. Wenn ich die Wahl zwischen einem Bus und einem Zug habe, wähle ich bei längeren Strecken immer den Zug. Man hat so viel mehr Platz, die Freiheit, aufzustehen und umherzulaufen, eine Toilette, eine bessere Sicht aus dem Fenster und nicht die Abhängigkeit von einem Busfahrer und seinem Fahrstil.
Das Wetter spielt heute leider nicht so richtig mit, es regnet immer wieder und der Himmel ist grau. Doch wir stehen trotzdem lange Zeit im Eingangsbereich an der Türe, denn die ist in der unteren Hälfte fest verschlossen, aber im oberen Teil geöffnet. Ohne schmutzige Scheibe dazwischen können wir Fotos machen und die an uns vorbeiziehende Landschaft anschauen.
Stopp 2: Cerocahui, das Regendorf
Bereits um 12.30 Uhr kommen wir in Bahuichivo an. Dank der Begegnung mit zwei Reisenden, ihrer Empfehlung einer kleinen Lodge und unserer telefonischen Reservierung werden wir von Mario abgeholt. Gut zwanzig Minuten fahren wir mit seinem Jeep in die Natur hinein und stoppen vor seiner kleinen Lodge Rancho Cabañas San Isidro. Marios Familie betreibt die Lodge, vermietet Zimmer und Cabañas, kleine Hütten, und bietet Touren an. Mit uns ist zeitgleich eine US-amerikanische Familie mit ihrem Guide in der Unterkunft und wie auch im pakistanischen Fairy Meadows bekommen wir das Gefühl, dass die Gruppe eines Guides besser und schneller bedient wird als Leute, die ohne Guide anreisen. Während für die Familie ein Feuer in ihrer Hütte entfacht wird, bleibt der Ofen in unserem Zimmer kalt und als sie Bier zum Abendessen bekommen, wird uns Wasser serviert. Aber Sebastian überrascht mich mit seinen Survival-Fähigkeiten und schafft es Dank des Ofens, auch unser Zimmer aufzuwärmen. Vor allem nachts wird es im Februar auf 1.600 Metern empfindlich kalt.
Noch bevor ich am nächsten Morgen die Augen öffne, höre ich schon den Regen aufs Dach trommeln. An diesem Geräusch wird sich heute nichts ändern, es regnet den gesamten Tag von morgens bis abends in Strömen. Normal, wie uns Mario sagt. Jetzt ist es unser Glück, dass wir ohne Guide unterwegs sind, denn anstatt wie die Familie durch den Regen zu stapfen und komplett durchnässt zurückzukommen, setzen wir uns gemütlich vor den Kamin und lesen ein Buch. Und hoffen darauf, dass der Regen morgen verschwunden ist.
Und das ist er. Bei strahlend blauem Himmel lassen wir uns von Mario zum Mirador de Gallego fahren, einem Aussichtspunkt, von dem aus wir einen fantastischen Blick in den Urique Canyon haben. Mehrere hundert Meter unter uns liegt das kleine Dorf Urique am gleichnamigen Fluss, eingerahmt von massiven Felswänden. Die 180-Grad-Aussicht ist unglaublich und wir sind froh, nicht gestern im Regen zum Aussichtspunkt gefahren zu sein.
Mit dem Chepe nach Creel
Sebastian ist angespannt und schaut konstant auf seine Karten-App. „Laut Google Maps brauchen wir noch 20 Minuten bis zum Bahnhof.“ Mario nickt mit dem Kopf. „Das schaffen wir locker, kein Problem.“ Wir selbst sehen schon ein gewisses Problem, denn der Chepe soll bereits in 15 Minuten abfahren. Doch Mario lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, hält für ein Schwätzchen mit seinem Nachbarn und setzt einen Bekannten, der auch mit uns im Auto sitzt, auf dem Weg in Richtung Bahnhof noch bei sich zu Hause ab. Wir werden immer nervöser. „Laut Google Maps soll es immer noch 10 Minuten dauern“, meldet sich Sebastian wieder. „Der Chepe wird Verspätung haben, der kommt nie pünktlich.“ Mario scheint ein Optimist zu sein. Bei einem Zug, der nur alle paar Tage fährt, sind wir leider nicht ganz so entspannt wie er. Doch er behält recht. Als wir eine Viertelstunde nach der offiziellen Abfahrtszeit des Chepe am Bahnsteig ankommen, ist der immer noch voller Wartender. Der Chepe trifft tatsächlich mit 45 Minuten Verspätung ein, Glück für uns.
Die vor uns liegende Fahrt soll die schönste Etappe des Chepe sein und im Gegensatz zu unserer Fahrt vorgestern haben wir heute fantastisches Wetter. Eine Handbreit von der Felswand entfernt, fährt der Chepe durch Canyons, über Brücken, durch Tunnel und an Flüssen entlang. Auf der rechten Seite haben wir einen fantastischen Blick auf die Berglandschaft. Bis zum Aussichtspunkt Posada Barrancas stehen wir an der halbgeöffneten Türe, schießen Fotos und schauen auf die vorbeifliegende Landschaft. Am Bahnhof Divisadero hält der Zug für 15 Minuten und gibt den Fahrgästen die Gelegenheit, in die Tiefe des Haupt-Canyons Barranca del Cobre, die Kupferschlucht, zu blicken, der hier 1759 Meter in die Tiefe hinunterreicht. Die Kupferschlucht ist viermal größer als sein berühmter kleiner Bruder in den USA, der Grand Canyon. Noch beeindruckender als die Kupferschlucht selbst finden wir aber den Urique Canyon, den wir heute Morgen fast für uns alleine hatten.
Stopp 3: Creel, krank im Land der Tarahumara
Um 17 Uhr kommen wir in Creel an. Es ist kalt hier! Fehlt nur noch ein Weihnachtsmarkt und ich würde sofort glauben, dass Dezember wäre. Vor wenigen Tagen noch saßen wir in Los Mochis im Botanischen Garten in der Hitze und jetzt tragen wir unsere langen Unterhosen und alle Jacken, die wir im Gepäck haben. Zum Abendessen gehen wir in ein Restaurant, dass uns von unserem Hostelbesitzer empfohlen wurde. Während Sebastians Essen gut war, scheint meines das Gegenteil gewesen zu sein. Mitten in der Nacht wache ich auf, mir ist unglaublich schlecht und mein Bauch rumort. Sofort kommen mir Erinnerungen an meinen letzten Brech-Durchfall in den Bergen Nepals in den Sinn, bei dem ich trotz vieler Klamotten vor Kälte zitternd immer wieder ins eiskalte Bad hasten musste. Warum passiert es immer an kalten Orten, dass ich krank werde? Hier haben wir aber zumindest eine Gasheizung im Zimmer.
Da ich mich auch am nächsten Tag nicht besser fühle und nichts essen kann, organisiert mir Sebastian eine Flasche mit heißem Wasser und eine Gemüsesuppe. Das Wetter ist toll und so wandert er zu den verrückten Felsformationen außerhalb Creels. Das Valle de Hongos, das Tal der Pilze, ist ein treffender Name für die Felsen, die tatsächlich wie überdimensionierte Pilze auf dem Boden stehen. Für Sebastian gibt es ein normales Abendessen, mir bringt er eine Schale weißen Reis und eine Banane mit. Am nächsten Tag bin ich zum Glück wieder fit.
Stopp 4: Cuauthémoc, letzte Station vor Chihuahua.
Da die Abfahrtszeiten des Chepe nicht mehr zu unseren Plänen passen, steigen wir auf den Bus um. Hier in Creel startet der Zug erst am frühen Abend in Richtung Chihuahua und fährt den größten Teil der Strecke durch die Dunkelheit. Mit dem Bus fahren wir nach Cuauthémoc, der letzten Stadt vor der Endhaltestelle Chihuahua.
Als wir durch die grauen Straßen Cuauthémocs laufen und in unserem bislang billigsten und trostlosesten Hotel in Mexiko einchecken, frage ich mich, warum wir eigentlich hierhin gefahren sind. Was wollten wir uns in der Stadt nochmal anschauen? Ich sehe nichts, was annähernd schön oder interessant aussieht, die Stadt scheint hauptsächlich funktional zu sein.
Auf dem Weg zu einem Restaurant fallen uns auf dem Gehweg Menschen auf, die so gar nicht in eine mexikanische Kleinstadt zu passen scheinen. Sie sind blond, großgewachsen und könnten uns auch in der Augsburger Fußgängerzone begegnen, statt in Cuauthémoc. Wenn sie nur etwas anders gekleidet wären. Denn die Frauen, die uns entgegenkommen, tragen alle Kleider aus sonderbar altmodischen Stoffen und haben ihre Haare mit einer Haube bedeckt. Das müssen Mennoniten sein, von denen uns schon erzählt wurde.
Auf der Suche nach mennonitischem Brot, was ganz besonders lecker sein soll, landen wir in Alejandros kleinem Geschäft. Er verkauft mit seiner Frau vor allem Produkte der Mennoniten: Brot, Käse, Wurst, Äpfel und verschiedene Marmeladen. Wir bezahlen unseren Einkauf und wollen gehen, doch liegt mir eine Frage auf der Zunge. „Wieso verkauft ihr nur Produkte der Mennoniten? Ihr seid selbst keine, oder?“, frage ich ihn. „Nein, wir sind keine Mennoniten, sondern Mexikaner“, lacht Alejandro. Doch er hat mennonitische Freunde und hält viel von der Qualität ihrer Produkte. „Wart ihr schon im Mennoniten-Museum? Habt ihr Mennoniten getroffen?“, fragt er uns. „Nein, noch nicht“, antwortet Sebastian ihm. „Wenn ihr wollt, fahre ich morgen mit euch zum Mennoniten-Museum und zeige euch die Gegend. Vielleicht lädt euch einer meiner Freunde sogar zu sich nach Hause ein.“
Zu Besuch bei den Mennoniten
Am nächsten Morgen holt uns Alejandro um 10 Uhr an unserem Hotel ab. Der erste Stopp ist das von Mennoniten selbst gestaltete Mennoniten-Museum. Viele Räume kommen mir sonderbar vertraut vor, so könnte es in einem deutschen Heimatmuseum auch aussehen. Für Alejandro wirken die Möbel sehr viel exotischer als für uns und begeistert sagt er uns immer wieder, dass er später selbst einmal solche Holzmöbel in seinem Haus haben möchte. Für mich sehen sie eher altbacken aus.
Zum Mittagessen verspricht uns Alejandro „typisch mennonitisches Essen“ und wir freuen uns auf irgendwas anderes als frittierte Speisen oder Tacos. So wundern wir uns doch, als wir auf dem vollen Parkplatz einer Pizzakette halten. Hier soll es „echt mennonitisches Essen“ geben? Der Blick ins Menü ist enttäuschend, denn außer Pizza gibt es nichts. Bei einer Pizzeria auch nicht verwunderlich. Alejandro fragt nach dem mennonitischen Essen, aber die Bedienung versteht nicht so recht, was er meint. Also bestellen wir Pizza, die zwar gut ist, aber nicht das, was wir erwartet hatten.
Nachmittags biegt Alejandro mit seinem Auto von der Hauptstraße ab und fährt mit uns in ein Wohngebiet. Die Häuser sehen ganz anders aus als in den mexikanischen Städten, die wir bislang kennengelernt haben. Einstöckige Einfamilienhäuser stehen inmitten eines großen Gartens, der mit einem Maschendraht eingezäunt ist. Schaukeln für die Kinder sehen wir, Sandkästen, Schubkarren und manchmal steht ein Auto vor der Garage. Vor einem dieser Häuser stoppen wir.
Nancy kommt uns entgegen, sie erinnert uns an die Frauen, die wir gestern im Zentrum Cuauthémocs gesehen haben. Mit einer einladenden Geste bittet sie uns in ihr Haus hinein und lässt uns auf dem Sofa Platz nehmen. Mit ihren zwei Töchtern backt sie Kekse, die von der älteren gerade mit Schokolade bestrichen werden. Mir fällt das mechanische Handrührgerät auf, mit dem die jüngere Tochter Sahne schlägt. In der Ecke steht ein Kühlschrank und brummt vor sich hin.
Wir sprechen Nancy auf Deutsch an, aber sie versteht uns nicht. Auch wir verstehen ihr Plattdeutsch nur in Bruchstücken. Alejandro hatte uns vorhin schon gesagt, dass Nancy kaum Spanisch spricht und er nur schwer mit ihr kommunizieren kann, aber dass sie eine tolle Person sei. „Do you speak English?“ Nancy schaut uns erwartungsvoll an und wir sind froh. Haben wir also doch eine gemeinsame Sprache gefunden.
„You can ask me everything you want to know“, eröffnet Nancy die Gesprächsrunde. Sie erzählt, dass sie 37 Jahre alt ist, 2 Töchter und 3 Söhne hat und das sechste Kind unterwegs ist. Alle Kleidungsstücke für die gesamte Familie näht sie selbst mit ihren Töchtern. „Wenn ich ein Kleid nähen lasse, zahle ich dafür etwa 15 Euro. Da mache ich es doch lieber selbst.“ Was Nancy teuer vorkommt, scheint uns ein günstiger Preis für ein geschneidertes Kleid zu sein. Ihre Nahrungsmittel bauen sie fast alle selbst an, nur weniges muss in der Stadt hinzugekauft werden. Während ihr Mann und die Söhne auf den Feldern arbeiten, organisieren sie und die Töchter den Haushalt.
Über zwei Stunden unterhalten wir uns und erfahren von der mennonitischen Kleiderordnung, wie die Partnerwahl funktioniert und dass jeden Sonntag alle Mennoniten in die Kirche gehen. Plötzlich zieht Nancy ihr Smartphone aus der Tasche. Ihr Mann meldet sich über WhatsApp. Wir dachten, dass die Mennoniten keine technischen Geräte nutzen, aber nun hat Nancy ihr Smartphone in der Hand und in der Ecke der Küche brummt der Kühlschrank. Aber auch Nancy kann uns nicht erklären, warum manches erlaubt ist und anderes nicht.
Schließlich bieten wir ihr an, auch uns Fragen zu stellen. Doch es scheint ihr schwer zu fallen. „I have no idea, how you live.“ Also erzählen wir von unseren Familien („Nur zwei Brüder? Das ist ja eine kleine Familie.”). Nancy fragt, ob wir Felder zu Hause bewirtschaften und Tiere haben, oder wie wir unser Geld verdienen und was wir an einem Wochenende so machen.
Wir wollen uns schon fast auf den Weg machen, da fragt Nancy uns eher beiläufig: „Where is Germany exactly? How far is it from Cuauthémoc?“ Da sie schon ein paar Mal in Kanada war, nutzen wir die Entfernung zwischen Mexiko und Kanada als Vergleich. „The distance is around two to three times more than to Canada. But because of the Altantic Ocean you have to take a plane or a ship to reach Europe.” An der Art ihrer Reaktion bekomme ich das Gefühl, dass sich Nancy noch nie eine Weltkarte näher angeschaut hat und der Atlantik ihr nicht wirklich etwas sagt.
Der Besuch bei ihr und ihren Töchtern lässt uns nachdenklich zurück. In vielerlei Hinsicht führen sie ein Leben wie wir auch. Doch in manchen Punkten unterscheidet sich ihr Alltag kolossal von unserem. Dass eine Gemeinschaft wie die der Mennoniten mitten in Mexiko leben kann, mit nur wenig bis gar keinem Spanisch und trotzdem so angesehen ist, beschäftigt mich sehr. Im Vergleich zu den Tarahumara, der indigenen Bevölkerung, die in der Gegend rund um Creel lebt und über die wir aus dem Mund von Mexikanern kaum Positives gehört haben, haben die Mennoniten einen gänzlich anderen Stand. Überall wird mit ihnen geworben, der mennonitische Käse, das mennonitische Brot, die mennonitischen Äpfel.
Stopp 5: Chihuahua, Stadt der kleinen Hunde
Für ein paar Tage ziehen wir in das Airbnb von Susana und ihrer Schwester. Seit langem sind wir mal wieder in einer großen Stadt und wir merken diese Tatsache meist an einem Punkt: Es gibt internationale Restaurants, die über Pizza und Fast Food hinausgehen. Bei einer japanischen Ramen-Suppe lassen wir die letzten Tage Revue passieren. Der Chepe war toll. Landschaftlich war die Gegend wahrlich beeindruckend, die Zugfahrt angenehm und zudem eine schöne Abwechslung zu den langen Busfahrten. Und auch die Begegnung mit den Mennoniten in Cuauthémoc hallt immer noch nach. Dass es Menschen in einer sich immer ähnlicher werdenden Welt schaffen, eine ganz andere Art des Lebens aufrechtzuerhalten und sich bewusst technischen Neuerungen entziehen, finde ich interessant und faszinierend, auch wenn ich mir so ein Leben für mich selbst nicht vorstellen kann.
In Chihuahua, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats, nur etwa 400 Kilometer südlich der US-Grenze, endet die Fahrt mit dem Chepe. Leider. Drei Tage bleiben wir in der Stadt, planen unsere nächsten Reiseetappen, arbeiten am Blog und schreiben E-Mails. Zwischendurch besuchen wir das Zentrum Chihuahuas und gehen abends ins Kino. Mein Spanisch reicht zwar noch nicht aus, um alles zu verstehen, doch die Handlung der Komödie lässt sich auch ohne perfekte Sprachkenntnisse weitestgehend nachvollziehen.
Ab jetzt geht es für uns nach Süden. In weniger als zwei Wochen werden meine Eltern in Mexiko-Stadt ankommen und 1.500 Kilometer liegen noch vor uns. Mexiko ist riesig, das wird uns einmal mehr bewusst.
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Hallo ihr lieben! Ja cool, dass ihr die Zugtour gemacht habt 🙂 Wann ward ihr denn dort, also in welchem Monat? Euren Klamotten nach zu urteilen, war es auch gar nicht so heiß, gell? Wir überlegen jetzt im Juni dort hin zu fahren.
Ganz liebe Grüße aus Guatemala und ich hoffe Euch geht es gut!
Die Svenja
Hi Svenja, schön von dir zu lesen 😊 Wir waren im Februar oder März dort. Da war es tagsüber sehr angenehm von den Temperaturen her und nachts eher kühl. Für euren Trip wünschen wir euch ganz viel Spaß und sind schon gespannt auf eure Fotos.
Liebe Grüße aus Schottland, wo wir gerade unterwegs sind.
Sebastian und Leo